"all meine pfade rangen mit der nacht"

Erinnerung an den Expressionisten Jakob van Hoddis, der als Dichter gefeiert, als Wahnsinniger behandelt und als Jude ermordet wurde

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ganz klein steht auf dem Cover des prachtvollen Ausstellungskatalogs der Name Hans Davidsohn. Es ist dies der jüdische Geburtsname, aus dem sich anagrammatisch neu schuf: Jakob van Hoddis. Mit seinem Namen verbunden ist eines der bekanntesten Gedichte des deutschen Expressionismus, jenes "Weltende", das sich wild und lakonisch selbst verkündet: "Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen/an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken./Die meisten Menschen haben einen Schnupfen/die Eisenbahnen fallen von den Brücken."

Als "Weltuntergangsprophet" wurde van Hoddis bekannt, als skandalträchtiger und schließlich gewaltsam 'ins Irrenhaus' gesperrter Dichter blieb er im Bewusstsein; dass er 1942 zusammen mit den anderen Patienten und dem Personal der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke Bendorf-Sayn deportiert und ermordet wurde, ist heute vergessen.

Im Sommer 2001 hat die Stiftung "Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum" eine Gedenkausstellung ausgerichtet, die anschließend noch in Bendorf bei Koblenz zu sehen war. Sie wollte dem Menschen van Hoddis gerecht werden und zeigte sein Leben und Werk in ganzer Breite, nicht nur in den Stationen, deren Glanz oder Schatten zu Voyeurismus verlocken.

Wer die von Irene Stratenwerth hervorragend kuratierte Ausstellung versäumt hat oder die Fülle der dort präsentierten literarischen und lebensgeschichtlichen Zeugnisse und Materialien noch einmal in Ruhe lesen und betrachten möchte, sollte zu dem im Stroemfeld Verlag erschienenen Katalog greifen. Er dokumentiert das Leben des Dichters, beginnend mit der Geschichte seiner Vorfahren, zu denen u. a. die "schlesische Nachtigall" Friederike Kempner gehörte, eine Tante der Mutter, schildert aus der Innenperspektive der literarisch ebenfalls produktiven Mutter Doris Davidsohn die Emanzipation einer jungen Frau und deutschen Jüdin im bürgerlichen Milieu des 19. Jahrhunderts, dem Ambiente, aus dem van Hoddis dann ausbrechen wird. Nachgezeichnet und illustriert werden erste literarische Erfolge, das Treiben der jungen Expressionisten im "Neuen Club", "Neopathetischen Cabaret" und "Café Größenwahn" und die Schatten, die sich bald über van Hoddis legen. Die Zeit unmittelbar vor und nach dem ersten Ausbruch der Krankheit ist umsichtig rekonstruiert. Dass diese Rekonstruktion nicht lückenlos gelang, spricht für die skrupulöse Sorgfalt der Kuratorin und ihrer Helfer. Bis heute ist nicht zu ermitteln, wo van Hoddis die Monate nach seiner Flucht aus der Heilanstalt "Waldhaus Niklassee" im Dezember 1912 verbrachte: Während sich Fritz Max Cahen Jahre später erinnert, er habe Hoddis Ende November 1912 in Paris gesehen, glaubt David Baumgardt, dass Hoddis im Dezember 1912 für zwei Wochen bei ihm in Heidelberg war; zur gleichen Zeit aber publiziert "Die Aktion" das Gedicht "Der Morgen des Philosophen", das gezeichnet ist "London Jakob van Hoddis". Der Briefwechsel von Simon Guttmann und Erwin Loewenson vom Dezember 1912 hingegen belegt, dass beide Freunde zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, Hoddis sei entweder in München oder in Berlin. In solchen Details werden Anspruch und Risiko eines (jeden) Projektes deutlich, das darauf abzielt, ein fremdes Leben zu erfassen und erfassbar zu machen. Zu dokumentieren, wie sich der damals Flüchtende noch heute entzieht und eben nicht dingfest machen lässt, wird dem Recht dessen, der seine Spur nicht nur vor der Familie verwischen wollte, eher gerecht als eine erzwungene Klärung. Auch in einem weiteren Punkt, der die Persönlichkeitsrechte der nächsten Angehörigen berührt, leistet der Katalog Vorbildliches: Die familiären Spannungen, die van Hoddis stark empfunden hat und deren Tradierung seine Familie bis heute in ungünstigem Licht hat dastehen lassen, werden von Stratenwerth nicht denunziatorisch, aber doch distanziert als Teil der Selbstmythisierung des Dichters und Begleiterscheinung seiner Krankheit erklärt. Sicheres Gespür für die angemessene Mischung aus Diskretion und Teilnahme bestimmt auch den Blick in die Krankenakten des Künstlers und die Schilderung seiner Zeit als Patient verschiedener Pflegeanstalten, zuletzt der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn. Dorthin hatte ihn die Familie 1933 gebracht, weil sie zu Beginn der dreißiger Jahre der sicherste Ort schien - der sicherste Ort für einen psychisch kranken Juden in Deutschland. Dies war eine fatale Fehleinschätzung und hat doch dazu beigetragen, dass man sich heute in der Berliner Ausstellung des Dichters erinnert.

Denn in Jakob van Hoddis Hans Davidsohn zu sehen und an ihn, der eine ambivalente Haltung zum Judentum hatte, als an einen Juden zu erinnern, ist ein heikles Unterfangen. Irene Stratenwerth, Chana C. Schütz und Hermann Simon kommen in ihrem Vorwort einer zu erwartenden Kritik zuvor. Der Frage, "warum eine Ausstellung über van Hoddis im Centrum Judaicum [...], einem Haus, das der Erinnerung an die Berliner Jüdische Gemeinde gewidmet ist", stattfindet, entgegnen sie: "Aus einem Grunde: Hans Davidsohn [...] war eben auch Berliner Jude, so wie der Industrielle Emil Rathenau, der Maler Max Liebermann, der Journalist Theodor Wolff, der Rechtsanwalt Jalowicz, der Sanitätsrat Dr. Wolf Lewin, der Eierhändler Israel Frankfurt, der Schneider Leopold Baum, der Kaufmann Paul Rosenbaum, die Witwe Laura Henschel und die Lehrerin Fanny Jablonski. Sie alle gehörten zu einer Schicksalsgemeinschaft, ob sie nun die jüdische Tradition pflegten oder nicht, ob sie an das weitgehende Aufgehen jüdischer Eigenart in die deutsche Kultur glaubten oder sich für den Zionismus entschieden."

Für den Zionismus, das kann man aus diesem informativen Band auch lernen, für den Zionismus entschied sich die gesamte Familie Davidsohn, die 1933 das Hitlerreich verließ und nach Palästina auswanderte, wo van Hoddis' Mutter, seine beiden Brüder, seine zwei Schwestern und deren Männer unter z. T. widrigen Umständen lebten. Diese Nebengeschichten und Seitenstränge gehören zu den unerwarteten Funden in diesem Katalog. Sie bergen viel Schicksal und sind mehr als nur Marginalien einer deutsch-jüdischen Geschichte, zu deren Akteuren und Opfern van Hoddis gehört: deutscher Dichter und ermordeter Jude.

Titelbild

Irene Stratenwerth (Hg.): All meine Pfade rangen mit der Nacht. Jakob van Hoddis 1887-1942.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
256 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3878770162

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