Denn immer hat einer Tal und der andere Gipfel
Portrait der Marburger Dichterin Anna Rheinsberg
Von Kerstin Plessow
Leben zu können, um zu schaffen, zu schreiben, zu sprechen und um der Wortlosigkeit den Kampf anzusagen, dafür steht Anna Rheinsberg.
Die Marburgerin sieht sich als Schriftstellerin und Feministin, und aus diesem Grund ist es ihr wichtig, neben dem eigenen Schreiben auf die Situation anderer Frauen aufmerksam zu machen, sich mit der Literatur schreibender Frauen auseinander zu setzen.
Sie selbst sagt, dass sie ohne Frauen nichts geworden wäre. Als Autodidaktin begreift sie Schreiben als "ein Handwerk zu verstehen, es zu beherrschen, unablässig zu lesen und zu lernen, und Freundschaften zu pflegen mit anderen, die es gleich tun". Schreiben ist für sie Bewegung, Leben, Nachdenken, aber auch der freie Fall. Viele Schriftstellerinnen, mit denen sie angefangen hat, haben aufgegeben. Anna Rheinsberg ist dabei geblieben und klagt die Gesellschaft an, sich nur um männliche Autoren zu kümmern.
"Ich bin für das Leben geheilt von der Wahl zwischen Männer- und Frauenwort. Es gibt keine Wahl, ersteres ist immer Verzicht." Aber ist es eine Lösung, dieses Bild einfach umzudrehen und nun männliche Autoren völlig auszugrenzen? Vielleicht wäre sie jedoch ohne diese ausschließliche Hingabe zum Frauenwort nicht das geworden, was sie jetzt ist.
Gerne führt Anna Rheinsberg ihre preußische Erziehung an. Seit sie 1956 in Berlin auf die Welt kam, ist sie hauptsächlich mit Frauen aufgewachsen und von Frauen erzogen worden. Weiblichkeit war immer präsent. Schon als Kind führte sie, die sie viele Jahre im Krankenhaus verbringen musste, Tagebuch und hatte mit 15 Jahren ihren ersten Roman angefangen, über die aufregende Zeit, als sie von zu Hause abgehauen war und sich mit Motorradjungs rumgedrückt hatte. Durch das erste Verliebtsein mit 18 kam auch ihr erstes Gedicht zustande: "Mohnblüten und sonstnochwas".
Während ihrer Schulzeit in Kassel (1975-1978) stürzte sie sich in die "Frauen-Schreiben-Bewegung", engagierte sich in Frauengruppen und gestaltete die kleine Frauenzeitschrift "Tollkirsche" mit. In Marburg gründete sie dann neben ihrem Studium der Germanistik mit anderen Frauen zusammen die Frauen-Literatur-Zeitschrift "Spinatwachtel". Wenngleich das Studium für sie enttäuschend verlief, machte sie dennoch ihren Abschluss und zwar mit einer Arbeit über die Dichterin Claire Goll: "Leid als Prinzip". Und dieser Autorin ist auch eines der drei Portraits in Anna Rheinsbergs Band "Kriegs/Läufe. Namen. Schrift" gewidmet.
Die beiden anderen Portraits sind Emmy Ball-Hennings gewidmet, die man wie Claire Goll als Frau an der Seite bekannterer avantgardistischer Schriftsteller kennt, sowie Else Rüthel, die nur wenigen Spezialisten der deutschen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre vertraut sein wird. Spezialisten wie Anna Rheinsberg, die sich, während der Entstehungszeit ihres Buches, ganz auf diese Frauen konzentriert und in ihren Worten lebt. Sie "spricht" mit ihnen, indem sie ihre Gedichte spricht. Sie führt Dialog mit ihnen, indem sie ihre Fotografien lange betrachtet. Und versucht sich so Zugang zu ihnen zu verschaffen.
Anna Rheinsberg hat für dieses Buch eine sehr umfangreiche Korrespondenz mit Nachlassverwaltern, mit zuständigen Stellen geführt und Zeitzeugen besucht, die diese Frauen noch kannten. So sind drei besondere Portraits entstanden, in einer eigenwilligen Mischung aus Essay und poetischer Prosa, aus Eigenem und Fremden. Mit viel Liebe und viel Melodie, aber auch kritischen Untertönen, zeigt Anna Rheinsberg ihre große Achtung vor diesen Frauen und wie wichtig es ihr ist, zu zeigen, dass sie existiert haben, darzustellen, wie sie geschrieben, wie sie gelebt haben: "immer hat einer Tal und der andere Gipfel / Und wenn der Morgen taut, sind wir verlassner denn je." (Claire Goll)
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