Die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel

Dietmar Goltschniggs zweiter Band der Büchner-Rezeption

Von Werner WeilandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Weiland

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon der erste Band von Goltschniggs großer kommentierter Sammlung der literarischen und politischen Büchnerrezeption seit 1875 war im "Rezensionsforum" (2001-09-0102.html) gebührend zu begrüßen. Auch der nun erschienene zweite Band ist überaus reichhaltig, sorgfältig und für die Verständigung über die Entwicklung des Büchnerbildes unentbehrlich.

Der einleitende Teil (118 Seiten) bietet eine periodisierende Durchdringung der Zeugnisfülle. Der Hauptteil (379 Seiten) präsentiert 94 meist gut lesbare Dokumente, außer essayistischen Texten auch einige Gedichte, Erzählversuche und Szenen. Den Grundstock der Revue bilden die Reden immer namhafter Büchnerpreisredner seit 1951, die allerdings auch bereits zuvor gesammelt erschienen waren. Aber Goltschnigg unterbricht und bereichert die kanonische Reihe mit zahlreichen und bislang nur verstreut publizierten Zeugnissen, besonders auch aus der ehemaligen DDR und der westdeutschen außerparlamentarischen Opposition. Spiegelungen der die deutsche Nachkriegszeit bestimmenden Teilung werden übersichtlich greifbar. Zweifelhaft bleibt indes die Chronologie verschiedener Beiträge während gleicher Erscheinungsjahre. Symptomatisch dafür steht im Dokumentationsteil der bereits am 11./12. Januar 1975 im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" erschienene Reisebericht von Erik Neutsch über denkmalpflegerische Mängel in Büchners Geburtsort Goddelau erst hinter im August und Oktober desselben Jahres belegten Veröffentlichungen.

Soweit Goltschnigg in der Ebene der Leitbegriffe die so genannte Moderne favorisiert, die ihr vordringliches Bezugsfeld in Neuerungen um 1910 hat, ist Widerspruch angebracht, und zwar gerade auch zugunsten der im Hauptteil dokumentierten Differenzen. Die Ausrichtung auf die Moderne opponiert der erst einmal näher liegenden Verbindung Büchners mit der sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Ludwig Büchner schrieb zur Einleitung der ersten Sammlung von Schriften seines Bruders (1850), dieser war "noch mehr Socialist, als Republikaner". Ginge es um einen für die verschiedenen Parteien akzeptablen Kompromiss, so empfiehlt sich als Leitbegriff wohl derjenige der Kritik, wozu Günter Eich (Dokument Nr. 37) unverkennbar im Umkreis der Frankfurter Kritischen Theorie ansetzt: "Kritik - und mit diesem Begriff wollen wir Büchner begreifen - [...]. Ich optiere für die Frage, für die Kritik, für den kritischen Dichter Georg Büchner, für einen Typus von Schriftsteller, der Fragen und in Frage stellt". Von Büchner selbst ist keine positive Konnotation des Begriffs modern überliefert. Er wünschte dementsprechend ausdrücklich "die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel" (an Gutzkow, 1836). Die Moderne steht dem Volksleben entgegen und kann, weil von dessen Kraft abgekommen und gekünstelt, nur noch sterben. In dem sonst viel weiteren Feld der Kritik (Theologiekritik, Erkenntniskritik, Philosophiegeschichte, Literaturkritik) zeichnet sich Büchner durch die politische und literarische Vehemenz aus, mit der er die soziale Frage seiner Zeit anging und das Missverhältnis der gebildeten Minorität zur großen Klasse als unerträglich behandelte.

Unstrittig scheint Büchner in hohem Grad über seine Zeit hinauszuweisen. Doch die von der Nachwelt veranschlagten Zielvorstellungen divergieren und verschieben sich beträchtlich. Wilhelm Herzog (Nr. 17), ein exilierter Sozialist, der übrigens ein Kleistbuch geschrieben hatte (1911) und bald danach den hervorragenden Schauspieler Albert Steinrück für die Münchner Uraufführung des "Woyzeck" gewonnen haben will, interpretiert Büchner im Blick auf "Darwin, Marx und Nietzsche" als auf die "bedeutendsten Geister des 19. Jahrhunderts". Hans Magnus Enzensberger (Nr. 52) aktualisiert den Hessischen Landboten nach der kubanischen Revolution und zur Zeit des Vietnamkriegs als Persischen Landboten. Max Frisch (Nr. 34) reflektiert schon 1958 die Antipoden und die Tarnfunktion des Rückzugs auf die Kunst: "Vor die Wahl gestellt, ein Engagement auf die Dogmen des Ostens oder ein Engagement auf die Dogmen des Westens einzugehen, entscheiden sich die meisten von uns (nach ihren Werken zu schließen) für l´art pour l´art, was meistens eine Tarnung ist." Walter Höllerer (Nr. 27) freilich tradiert den Modernitätstopos im engeren Sinn, auch ausdrücklich "um 1910, zur Zeit der expressiven Dichter" festgemacht, mit dem "supranaturalen Aufsprengen", der "Überkreuzung von Realem und Visionärem". Karl Krolow (Nr. 30) hingegen beruft Büchner, gerade nicht mehr dem Expressionismus nachempfunden, "für die gebrochene, leise Stimme", die dem entgegenkomme, "wer heute moderne Gedichte zu schreiben versucht". Walter Jens (Nr. 48) verknüpft die konventionalisierte Prolongierung Büchners zu Wedekind, Brecht, Benn, Musil und Döblin mit der Zugrundelegung der medizinisch naturwissenschaftlichen Prägung, die Büchner durch seinen Vater, einen leitenden und auch fachlich publizierenden Anstaltsarzt, erhalten und die schon Gutzkow mit dem Reizwort der Autopsie betont hatte. Arnold Zweigs Diktum von 1923, mit einem bestimmten Satz im ersten Absatz von Büchners "Lenz" "beginnt die moderne europäische Prosa", wurde von und nach Anna Seghers in der DDR verschiedentlich abgewandelt (Nr. 50, 60, 61).

Dass viele ausgezeichnete Fürsprecher Büchners ab 1933 exilieren mussten, war unfreiwillig eine Schubkraft seines inzwischen eingetretenen Weltruhms. Ein anderes Problem ist der geringe Anteil von Autorinnen. Goltschniggs erster Band bietet an weiblichen Stimmen zu Büchner allein Ricarda Huch und Anna Seghers in Mexiko, der zweite Band Marie Luise Kaschnitz, Anna Seghers in Ostberlin, Ingeborg Bachmann, Christa Wolf mit zwei Beiträgen, Hilde Spiel zu einer Salzburger Aufführung von "Leonce und Lena" und ein Pamphletgedicht von Anna Rheinsberg (Nr. 92). Letzteres verwirft fäkalmetaphorisch die demütigen Frauengestalten, die nur zum Dung taugten: "jetzt schmeiß ich / den Goethe, den Hebbel, den Büchner / hinaus." Herausgeberisch ausgewählt hätte ich außerdem, bei Umfangsgrenzen mit Kürzung des zweiten Beitrags von Hans Jürgen Geerds, Auszüge aus Erna Kritsch Neuses unüblichem und prägnantem "Lenz"-Aufsatz (in: The German Quarterly 43, 1970, S. 199-209) und Hannelore Schlaffers dem Klassenbewusstsein gewidmeten Vergleich des Volks in Grabbes "Napoleon" und Büchners "Danton" (1972).

Titelbild

Dietmar Goltschnigg (Hg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentare Band 2: 1945-1980.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2002.
647 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-10: 3503061061

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