Hereinspaziert, Mord!

Jakob Augstein zeigt mit seinen Gerichtsreportagen Berlins andere Seite

Von Heike SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sieben Schüsse in Glienicke. Gerichtsreportagen aus Berlin." Mein erster Eindruck: Jakob Augstein will meiner Sensationsgeilheit noch einen drauf setzen. Mord, Totschlag, Mißbrauch, Überfälle - das kann den Leser wohl nicht mehr richtig schocken, dennoch verkauft es sich gut. Bilder der Opfer werden uns alltäglich im Fernsehen und der Presse präsentiert, aber eine feine Sache ist ein schick gebundenes Buch als Actionspaß für jeden Tag. Darin alles, was das menschliche Schicksal in seiner ganzen Brutalität ausmacht. Richtig schön dreckige Wäsche waschen und sich am verhunzten Leben anderer ergötzen - eine 132 Seiten blutige Bildzeitung, lechz....

Ich fange an zu lesen und es ist gut. Nicht blutig. Nicht hetzerisch. Nicht geschmacklos. Sondern engagiert geschrieben. Nachdenklich. Sogar moralisch. Denn Jakob Augstein notiert nicht nur bloße Sachverhalte oder kategorisiert die angeklagten Menschen oberflächlich in Perverse, Psychopathen, Brutalos, Monster. Nicht die Höhe der Strafe oder der Tathergang bestimmen seine Reportage, sondern die Persönlichkeit des Angeklagten dominiert seine Texte. Maria bringt ihren Mann um - mit einem Kartoffelmesser. Maria ist eine Mörderin. Maria wurde von ihrem Mann vierzig Jahre lang geschlagen und gedemütigt. Jakob Augstein belästigt uns nicht mit Paragraphen und klugen Richtersprüchen. Er schreibt über Maria. "Eine kleine, graue, runde Frau auf der Anklagebank in einem düsteren, holzgetäfelten Saal des Berliner Landgerichts. Zusammengesunken sitzt sie da, den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt.[...]Einmal, vor mehreren Jahren in Polen habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Während der Zeugenaussagen sackt die Frau auf der Anklagebank immer wieder in sich zusammen und weint." Augsteins Ehrgeiz ist es, zu verstehen und Erklärungen zu finden, ohne das Geschehene zu entschuldigen. Er verläßt dafür nicht die Wege des seriösen Journalismus, vielmehr ebnet er sie für die Gerichtsreportage neu. Seine Neugierde an einer Verhandlung wird nicht durch die Anzahl der Blutspritzer beziehungsweise den Grad ihrer Brutalität bestimmt, sondern durch die Chance, im Angeklagten mehr den Menschen, als nur den Täter zu sehen. Die daraus zu gewinnende Erkenntnis ist oft erschreckend, ernüchternd, aber auch traurig. Mit seinem Buch über den Alltag des Gerichts Berlin-Moabit schafft es Augstein, die Gerichtsreportage zu neuem Leben zu erwecken, weg vom Schmuddelimage als Schlagzeilenlieferant, hin zu modernem, engagiertem und reflektiertem Journalismus.

Titelbild

Jakob Augstein: Sieben Schüsse in Glienicke. Gerichtsreportagen aus Berlin.
Carl Hanser Verlag, München 1998.
132 Seiten, 13,70 EUR.
ISBN-10: 3446193030

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch