"Orgien von Taktlosigkeit"

Die lohnende Wiederentdeckung des Schlüsselromans "Bürgerliche Bohème" von Oscar A. H. Schmitz

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der einst angesehene Erzähler, Dramatiker und Essayist Oscar A. H. Schmitz (1873-1931) ist heute vergessen. Dass damit dem "hervorragend gescheiten Schriftsteller" - so Thomas Mann über ihn - Unrecht geschieht, beweist sein Roman "Bürgerliche Bohème" (1912). Dieser autobiographisch inspirierte Schlüsselroman führt in einer an romantische Ironie erinnernden Selbstbezüglichkeit vor, wie es zu solchem genretypischen Versteckspiel kommt: Ein Autor veröffentlicht einen Roman, in dem er die leidvollen Erfahrungen verarbeitet, die er mit seiner inzwischen von ihm geschiedenen Ehefrau gemacht hat. Diese fühlt sich bloßgestellt "als eine haltlose, wenn auch an Charakter ursprünglich gut veranlagte Frau, die widerstandslos allen törichten Theorien der Zeit unterliegt und dadurch für das Leben und besonders für die Ehe unbrauchbar wird". Sie greift ihrerseits zur Feder und rächt sich mit dem - frei nach Ibsen betitelten - Schlüsselroman "Wenn wir Frauen erwachen...". Dessen Heldin ist eine trotzige Herausforderin der Gesellschaft, die Ehe mit einem unwürdigen und brutalen Gatten wird ihr zur Hölle; erst die Erlösung aus dem Ehejoch bringt freie Selbstbestimmung und Genugtuung in "reinem, künstlerischem Schaffen". In dem Roman des Ehegatten ist unschwer der vorliegende Roman wiederzuerkennen. Die Entgegnung der Gattin wird vorweggenommen, wobei die Pointe im Titel liegt. Schmitz' Roman hatte ursprünglich den Titel "Wenn wir Frauen erwachen... Ein Sittenroman aus dem neuen Deutschland". Den jetzigen Titel erhielt er erst bei der siebten Auflage des Jahres 1918.

Das ironische Spiel, der alte und der neue Titel signalisieren Satirisches; und in der Tat ist der Roman, obschon insgesamt eher realistisch, mit satirischen Einlagen gespickt. Der Haupterzählstrang folgt der Entwicklung einer Frau bis etwa zu ihrem dreißigsten Lebensjahr. Amélie, so der Name der Protagonistin, verbringt Kindheit und Jugend im großbürgerlichen Milieu einer westdeutschen Großstadt, begibt sich nach München, um malen zu lernen, verkehrt in der Schwabinger Bohème, heiratet einen feinsinnigen Schriftsteller, der sich dann durch ihr befremdliches Verhalten zur Scheidung gezwungen sieht, und geht schließlich eine zweite Ehe mit einem heruntergekommenen Baron ein, den weder Intellektualität noch Gefühlskultur auszeichnet. Die satirischen Attacken richten sich gegen die psychologischen Ungereimtheiten der Frauenbewegung und gegen die Velleitäten der Bohème. So verträgt sich die sexuelle Disposition Amélies schlecht mit ihren emanzipatorischen Anschauungen. Sie ist eine Masochistin, die den Mann dann bewundert, wenn er sie ohrfeigt oder gar mit der Reitgerte traktiert. Sie vermeidet die Entjungferung vor der Ehe und begnügt sich mit den sexuellen Praktiken einer Demi-vièrge, wie sie auf den Faschingsfesten üblich gewesen zu sein scheinen, und muss sich als "Schwabinger Ferkel" beschimpfen lassen. Unbefolgt bleibt die Mahnung eines lebensklugen Kunstprofessors: "Vergessen Sie Ihre gute Erziehung nicht, bleiben Sie eine junge Dame, machen Sie sich keine Illusionen vom Münchener Künstlerleben, und gehen Sie der Bohème aus dem Wege. Wenn Sie dann auch nicht malen lernen, so haben Sie nichts verloren...". Als Frau wie als Künstlerin, als "Malweib", wie man damals in München sagte, ist Amélie durch Halbheit charakterisiert und die Personifikation einer Bohème, die außerstande ist, der vorgeblich verachteten Bürgerlichkeit konsequent zu entsagen, und der es an Talent fehlt, Kunst statt nur Kunstgewerbliches hervorzubringen.

Als die renommierteste Schwabingerin, Gräfin Reventlow, das Buch des mit ihr befreundeten Schmitz las, fand lediglich die Formulierung "Schwabinger Ferkelei" ihren Beifall, ansonsten nannte sie es "ein unerhörtes Machwerk", das "Orgien von Taktlosigkeit" feiere. Ihr harsches Urteil mag seinen Grund nicht zuletzt darin gehabt haben, dass der Roman ihrem eigenen kurz darauf erschienenen Schwabinger Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen" in gewisser Hinsicht zuvorgekommen war. Beide Romane porträtieren George und Mitglieder seines Kreises. An der Peripherie war Schmitz eine Zeitlang Mitglied dieses Kreises gewesen, was dazu beigetragen haben dürfte, dass er keine Karikaturen liefert, vielmehr einige Porträts persönliche Sympathie nicht verleugnen. Das gilt besonders für die Geist und Vitalität vereinende Gestalt des Dr. Österroth, hinter der sich Wolfskehl verbirgt, um den, wie Schmitz später selbst schrieb, er geworben habe wie um keinen anderen Mann. Sie ist rundum gelungen und bereitet auch unabhängig von der Beantwortung der Frage, wer Modell gestanden hat, ästhetisches Behagen. Überhaupt wäre es einseitig, das Augenmerk ausschließlich auf die Bohème-Kritik zu lenken. Einige Szenen des Romans vermitteln etwas von der kultivierten Lebensfreude, die der Schwabinger Bohème keineswegs fremd war. Zu diesen Szenen zählt z. B. ein Dionysos-Fest in antiken Kostümen, das auf einer Insel eines oberbayrischen See veranstaltet wird. Als leicht verfremdetes Vorbild ist ein Maskenzug im Fasching 1903 auszumachen mit George als Caesar und Wolfskehl als Dionysos; Schmitz wirkte als bekränzter Bacchant mit.

Schmitz war ein zu genauer Beobachter und ein zu gescheiter Psychologe, als dass sich sein umfangreicher Roman darin erschöpfte, grobschlächtige Satire auf die Bohème und die Frauenbewegung zu sein. Der Erzähler weiß zu differenzieren und zeichnet das Einwirken eines teils verführerischen, teils abstoßenden Milieus auf einen ungefestigten weiblichen Charakter differenzierter und einfühlsamer nach, als die kurze Inhaltsangabe zeigen kann. Der einst erfolgreiche, seit langem jedoch vergessene Roman ist konventionell erzählt und gewiss kein Kunstwerk; doch die Verbindung von Kultur- und Mentalitätsgeschichte mit amüsanter Unterhaltung macht seine Lektüre zum nützlichen Vergnügen. Der Weidle Verlag sei für die Neuausgabe bedankt. Anerkennung verdient auch das Nachwort der Herausgeber, das die Schwabinger Szene, sofern sie den Hintergrund des Romans abgibt, kenntnisreich vorstellt.

Titelbild

Oscar A. H. Schmitz: Bürgerliche Bohème.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Monika Dimpfl und Carl-Ludwig Reichert.
Weidle Verlag, Bonn 1998.
445 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3931135330

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