Friedrich Nietzsche und Elisabeth Förster-Nietzsche

Die Schwester als Biographin und Nachlassverwalterin

Von Gerhard MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Elisabeth Förster-Nietzsche (1846-1935) Briefe und Aufzeichnungen ihres Bruders hemmungslos fälschte und zum Teil erfand, dass sie seine Biographie schönte und dass sie Nachlasstexte unter dem Titel "Der Wille zur Macht" eigenmächtig herausgab, das alles ist seit langem bekannt. Die Fälschungen der Nietzsche-Briefe hatte schon Karl Schlechta in seiner wegweisenden Nietzsche-Ausgabe "Werke in drei Bänden" von 1956 beschrieben, und seine noch heute verbindliche Edition enthält auch kein posthumes Werk "Der Wille zur Macht" mehr. Nietzsche hatte wohl Aufzeichnungen zu einem geplanten Werk dieses Titels gemacht, doch im August 1888 entschieden, dieses Projekt fallen zu lassen und den Komplex aufzuteilen. Nur den "Antichrist" und die "Götzendämmerung" konnte er noch ausarbeiten.

Das fatale Spiel der Elisabeth Förster-Nietzsche - als Biographin, Archivleiterin und Nachlassverwalterin - muss also nicht neu entzaubert werden. Wozu also - so könnte man etwas zugespitzt fragen - jetzt ein Buch über Nietzsches Schwester, ein Buch, das sich gerade auf den "Willen zur Macht" konzentriert?

Die Legitimation und der Vorzug von Carol Diethes Veröffentlichung liegen darin, dass hier zusammenhängend und einigermaßen ausführlich die Biographie und das verschiedenartige, dabei zum Teil einflussreiche Wirken von Nietzsches Schwester dargestellt werden, gestützt auf zahlreiche Quellen - namentlich aus dem Weimarer Goethe-und-Schiller-Archiv. Die Autorin gliedert ihren Stoff in sechs Kapitel: "Lieschen - Lisbeth - Lama" schildert Kindheit und Jugend; "Fräulein Nietzsche" gilt dem Zusammensein der Geschwister in den Jahren 1876-1879 und "Frau Eli Förster" Elisabeths Heirat mit Dr. Bernhard Förster und seinem bald gescheiterten Kolonisationsprojekt in Paraguay. "Der Wille zur Macht" wendet sich der Gründung des Nietzsche-Archivs und den biographischen Aktivitäten der Schwester zu; "Elisabeth und die Frauenbewegung" (ein aufschlussreiches Kapitel) vertieft einen wichtigen inhaltlichen Aspekt, u. a. anhand einer dem Nachlass Elisabeth Förster-Nietzsches entnommenen Erzählung; schließlich beschreibt "Frau Dr. phil. h. c. Elisabeth Förster-Nietzsche" ihre Tätigkeiten in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, unter der Perspektive von Nietzsche-Kult und NS-Einflussnahme.

Ihr Resümee gibt Diethe schon im "Vorwort". Elisabeth ging "mit dem Nachlaß ihres Bruders sträflich um", und ihr "Ehrgeiz führte sie in ganz andere Regionen als die durch Nietzsches Denken bezeichneten: Letztlich setzte sie auf Zweckhaftigkeit, nicht auf Integrität." Sie dachte in Konjunkturen, wollte Erfolg und Anerkennung. Dies wird in den sechs Kapiteln entfaltet und belegt.

Dem Buch ist eine Erzählung Elisabeth Förster-Nietzsches beigegeben, ein literarisch belangloser, doch für ihre Beziehung zu Friedrich Nietzsche aufschlussreicher Text aus dem Jahre 1882. Über den von Diethe gewählten Titel "Kaffeeklatsch über Nora" kann man streiten, ebenso gut wäre "Heiratspläne in Weißenburg" oder "Frühlingswaldeszauber" in Frage gekommen; auch ist er sprachlich holprig, denn man kann zwar "über jemanden klatschen", doch das Substantiv "Kaffeeklatsch" harmoniert nicht gut mit der Präposition "über". Man sollte dem Text nicht allzu viel an "Schlüsselfunktion" entnehmen wollen, aber es finden sich tatsächlich einige "Parallelen" zwischen der Erzählung und Doppel-Biographie der Geschwister Nietzsche. Die Protagonisten tragen Züge von Elisabeth und Friedrich, der Ort des Geschehens erinnert an Naumburg, und die Rivalin ähnelt in vielem Lou-Andreas Salomé.

Und doch legt man das Buch mit einem unguten Gefühl aus der Hand. Gelegentlich wird von Carol Diethe psychoanalytisch zu sehr überzogen - sie folgt Freud und Lacan -, aber mehr postuliert als bewiesen. Zudem ist der Stil der Darstellung an manchen Stellen nachlässig: so z. B. "Helden und andere klassische Altertümer", "Ohne Elisabeths Intervention wäre die Sache sicher anders gelaufen" (die Beziehung zu Lou-Andreas Salomé), Nietzsche als "Bürgerschreck"; hier hätte dem Übersetzer, Michael Haupt, und der Lektorin, Aenne Glienke, mehr Umsicht gut angestanden. Auch sollten bei einer Monographie dieser Art Zeittafel und Personenregister nicht fehlen. Gravierender scheint mir, dass der Aufwand, den die Autorin betreibt, um die Verfehltheit der Publikation des Nachlassbandes "Der Wille zur Macht" darzulegen, doch seit Jahrzehnten obsolet ist. Wer nimmt heute diese Veröffentlichung noch ernst?

Was "Wille zur Macht" bei Nietzsche meint, wird nicht so recht klar. Immer wieder wird mit dieser Formulierung eher gespielt als Klärendes beigetragen. Es überzeugt auch nicht, wenn Diethe öfter Elisabeths Willensstärke mit Nietzsches Ausdruck gleichsetzt, wovon schon der Titel des Buches zeugt. Um Beliebigkeit und Unschärfe zu bremsen, sei an einige Zeilen Mazzino Montinaris (in einem Aufsatz aus dem Jahr 1976) erinnert, die in wünschenswerter Präzision jenen prekären Ausdruck beschreiben: "Wenn wir vom ,Willen zur Macht' sprechen, so beziehen wir uns zunächst auf einen philosophischen Lehrsatz, sodann auf ein literarisches Projekt Nietzsches, endlich aber auch auf die unter diesem Titel bekannte Kompilation aus dem Nachlaß, [...] herausgegeben von Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) und Elisabeth Förster-Nietzsche."

Gleichwohl ist die Gründlichkeit, mit der die Autorin die Quellen aufgespürt und ausgewertet hat, zu würdigen, und: Sie versteht es, Elisabeths Persönlichkeit und Biographie eingehend nachzuzeichnen und aus ihnen ihre Handlungsweisen plausibel zu machen. Sie bemüht sich zu zeigen, wie die schwesterliche Anmaßung die Rezeption der Philosophie Nietzsches über viele Jahre hin bestimmt hat. Hierin liegt, jenseits aller Einwände, der Wert des vorliegendes Buches.

Titelbild

Carol Diethe: Nietzsches Schwester und Der Wille zur Macht. Biographie der Elisabeth Förster-Nietzsche.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Haupt.
Europa Verlag, Hamburg 2001.
272 Seiten, 17,60 EUR.
ISBN-10: 3203760304

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