Zu dieser Ausgabe

Die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts war maßgeblich die der literarischen Moderne. Ihren Anfängen um 1900, den Autorinnen und Autoren, die damals ihre literarische Karriere begannen, widmen die Februar- und die März-Ausgabe von literaturkritik.de ihre Schwerpunkte.

Zwei Gegenstandsbereiche, die wenig gemeinsam zu haben scheinen, die vielmehr als Gegensätze gelten, stehen zunächst im Zentrum: die Bohème und Thomas Mann. Anarchismus, Libertinage, Antibürgerlichkeit, Spontaneität und alles, was sonst noch mit 'Bohème' assoziiert ist, stehen damit einem Autor gegenüber, der sich bei aller heimlichen Sympathie vehement dagegen wehrte. In den Differenzen zwischen den Brüdern Heinrich und Thomas Mann fanden die Spannungen zwischen Bohème und dem großbürgerlichen Habitus des deutschen Nationalschriftstellers ihren persönlichen Ausdruck. Sie sind kennzeichnend für die Spannungen innerhalb der Moderne.

Anlass für literaturkritik.de, sich eingehender mit Thomas Mann auseinander zu setzen, waren nicht zuletzt die von zahlreichen Buchpublikationen begleiteten Feiern zum 100. Geburtstag der "Buddenbrooks" und die meist überschwänglichen Resonanzen auf Heinrich Breloers Fernsehfilm über die Familie Mann. Reich-Ranicki wertete den Film als Triumph eines Schriftstellers, der bei anderen Autoren der Moderne keine große Anhängerschaft fand. Ein Schatten auf diesen Triumph wirft eine in der Schweiz neu angefachte Diskussion über antisemitische Tendenzen in Thomas Manns Werk.

Der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu hat in einem seiner letzten Bücher ("Die Regeln der Kunst", 1999) die sich in Frankreich herausbildende Bohème als eine der treibenden Kräfte in jener sozialhistorischen Entwicklung beschrieben, in der sich ein gegenüber anderen Bereichen der Gesellschaft relativ autonomes künstlerisches und "literarisches Feld" als eine gesonderte "Welt mit je eigenen Gesetzen" konstituierte. Ihre "Lebenskunst" und ihr "Lebensstil" richteten sich "gleichermaßen gegen das geordnete Dasein der offiziellen Maler und Bildhauer wie gegen die eingefahrenen Muster des bürgerlichen Lebens". Bourdieu, seit Jahrzehnten einer der bedeutendsten Repräsentanten jenes Typs kritischer Intelligenz, der in Deutschland maßgeblich durch Heinrich Mann geprägt wurde, ist im Januar dieses Jahres gestorben. Michael Ansel danken wir, dass er für literaturkritik.de einen Nachruf geschrieben hat.

Zwei weitere Nachrufe enthält diese Ausgabe: einen von Lutz Hagestedt auf Astrid Lindgren und einen von Johannes Birgfeld auf Franz Innerhofer. Ein Gespräch mit Wilhelm Genazino hat Franz Stuber geführt. Insgesamt werden in dieser Ausgabe etwa achtzig Bücher besprochen. Allen, die mitgearbeitet haben, sei herzlich gedankt, vor allem auch Alexandra Pontzen, seit Oktober 2001 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Uni Marburg und inzwischen regelmäßige Autorin für unser Rezensionsforum. Sie hat den Schwerpunkt dieser Ausgabe mit betreut.

Für den Beginn des 4. Jahrgangs von literaturkritik.de verzeichnet unsere Statistik übrigens einen weiteren Zuwachs an Leserinnen und Leser. Waren es im Februar 1999, als unsere Zeitschrift zu erscheinen begann, noch rund 4400, so hat sich die Zahl derer, die sich jeden Monat auf unseren Seiten länger aufhalten, inzwischen mehr als verzehnfacht. Knapp 50 000 "Sessions" registriert die Statistik für Januar, wobei auf 250 000 Seiten zugegriffen wurde ("pageviews"). Wir freuen uns darüber und danken unseren Lesern für ihr Interesse und ihre Unterstützung.

Thomas Anz