Dauerrausch in Delhi

Marcus Brauns Roman-Debüt

Von Jaroslaw PiwowarskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jaroslaw Piwowarski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte setzt mit einer Szene an, in der ein Mord beschrieben wird. Die schöne blonde Sophie trifft sich in einem Hotelzimmer mit einem reichen indischen Freier und tötet ihn durch einen Schuß in die Stirn. Während der arme Kerl seinen letzten Lebensatem aushaucht, trinkt sie noch schnell ein Gläschen Wein, ohne das Glas mit ihren Lippen zu berühren, und verläßt das Zimmer. Denn Sophia ist keine Prostituierte, sondern eine Killerin, die ihr Handwerk versteht. Sie fliegt in das indische Delhi, dann nach Goa, wo sie ihren schwarzen Liebhaber treffen soll. Der Haken an der Geschichte ist folgender: Sophie und der Schwarze sind keine wirklichen Personen, sondern Figuren aus der Fantasie Goesters, des Romanhelden. Er hat bereits seit der Kindheit die Angewohnheit, "Filme im Kopf nachzuspielen, mit sich in der Haupt- oder, wenn die Helden zu alt waren, in einer glänzend ausgebauten Nebenrolle." Er wäre gerne ein Held, so einer, der mit einer Waffe unter dem Kissen einschläft, dem Gefahren begegnen und der von Frauen umschwärmt wird.

Der 1971 geborene und zur Zeit in Berlin lebende Autor Marcus Braun trat vor zwei Jahren beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs auf und las aus einem unveröffentlichten Manuskript. 1994 und 1995 erschienen ein Band Prosa mit dem Titel "Ohlem" und das Theaterstück "Zett". Seine Texte kennzeichnet die Verstrickung von Realität und von Kopfgeburten, Träumereien und Erinnerung, kurz: die erzählte Ebene des Erlebens.

Sie ist auch Thema von "Dehli", seinem ersten veröffentlichen Roman. Delhi ist das Reiseziel des eben diplomierten Architekten Goester. Im Flugzeug lernt er den Schwarzen Amerikaner Clayborne und in seinem Hotel die Dänin Sophia kennen, die er als Projektionsflächen für seine Phantasiegestalten benutzt. Bald denkt er sich einen Komplott zurecht, an dem die schöne Sophie und Clayborne beteiligt sein sollen. Beide wollen den radikalen indischen Politiker Raj Kethra ermorden. Goester, der sich als Franzose ausgibt, will dieses Attentat um jeden Preis verhindern. Goester verfällt zunehmend in einen trancehaften Rauschzustand, steigert sich zunehmend in seinen Fantasien hinein.

Skizzenhaft wie die einzelnen Kapitel ist auch die Sprache. Kurze, nie schweifende Sätze folgen schnell aufeinander. Braun erzählt nicht, er zeichnet vielmehr mit knappen, behauptenden Sätzen und setzt auf Beschränkung. Im Text findet sich eine kurze Anekdote, und zwar über den kleinen Kierkegaard, der, als er spazierengehen wollte, von seinem Vater an der Hand genommen und durch das Zimmer geführt wurde. Dabei erzählte der Alte, was es zu sehen gab - als ob sie tatsächlich draußen laufen würden. Seine Schilderungen waren so anschaulich, daß der kleine Kierkegaard von der Fülle der Eindrücke dermaßen ermüdet war, als hätte er eine Weltreise gemacht.

Diesen Aspekt findet man bei Braun nicht. Die Knappheit und Beschränkung hat auch seine Konsequenzen. Das Buch ist nicht kopflastig, aber wahrnehmungsarm, wie ein Comic ohne Bilder. Jedes Kapitel ist eine abgeschlossene Episode, die von mal zu mal auf eine Pointe zielt und sie manchmal auch trifft. Der Leichtfüßigkeit und Banalität der Geschichte ist ein durchaus strenger Aufbau des Romangerüsts gegenübergestellt. Die zweiunddreißig Kapitel des Romans sind zu je vier Kapitel in acht Abschnitten unterteilt. Absichtslos wird das Schachspiel im Verlauf des Romans herbeizitiert. Den deutlichsten Hinweis gibt ein ominöser Fluginsektenforscher gegen Ende des Romans, der Schachaufgaben nach folgendem Prinzip erstellt: "Von einem Schachbrett denke man sich die Hälfte weg; zum Beispiel die schwarzen oder die weißen Felder oder die Reihen 1-4 oder a-d, egal; die unsichtbaren Stellungen und Bewegungen seien zu ergänzen." Die strenge Form des Romans und die vorgeschobenen Verweise auf die Struktur des Schachspielbretts erscheinen wie ein Alibi, um das Buch ambitioniert erscheinen zu lassen. "Delhi" gibt vor, von der Art einer kniffligen Schachaufgabe zu sein, hat aber das Niveau eines mittelmäßig spannenden Planspiels. Marcus Braun hat einen Gag-Roman geschrieben, voller Anspielungen und literarischer Clownsnummern.

Titelbild

Marcus Braun: Delhi. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 1999.
173 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3827003105

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