Anthropologie und empirische Psychologie um 1800

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Marburger Philosoph Reinhard Brandt leitet seinen Kommentar zu Kants 1798 erschienener "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (vgl. literaturkritik.de 7/2000 ) mit der Bemerkung ein, dass die Schrift und ihre Thesen nach 1800 "keine Spuren hinterlassen" haben. Ganz anderer Auffassung ist hingegen Paul Ziche. Für das sich konstituierende Fachgebiet der Anthropologie, so der in Jena lehrende Naturphilosoph und Wissenschaftshistoriker, sei Kants Schrift "von initialer Bedeutung" gewesen. In dem von ihm gemeinsam mit Georg Eckardt, Matthias John und Temilo van Zantwijk publizierten Buch "Anthropologie und empirische Psychologie um 1800" unternimmt er es diese These zu belegen.

Die Jenaer Wissenschaftler behandeln in dem auf Interdisziplinarität angelegten Band unter anderem den "Kanon-Begriff der Logik und die empirische Psychologie in der nachkantischen Tradition", unterziehen anthropologische und psychologische Zeitschriften der Zeit einer genauen Untersuchung und beleuchten die "Methodologie der Erfahrungsseelenlehre". Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt weniger auf der Anthropologie als Ganzer; vielmehr gilt ihr primäres Interesse den "Konzeptionen und Probleme[n]" eines ihrer Teilgebiete: der empirischen Psychologie, deren Entstehung und Entwicklung sie nicht so sehr als Ideen- und Problemgeschichte untersuchen, sondern sie unter den "kontextuellen Aspekten" ihrer Praxis beleuchten. Physiologie und philosophische Anthropologie, die beiden anderen Fachgebiete der Anthropologie, werden nur insofern berücksichtigt, als sie für die Entwicklung der empirischen Psychologie zu einer eigenständigen Disziplin wichtig sind.

Ausgehend von der These, dass sich seit 1790 "die Tendenz einer Verselbständigung der Psychologie zu einer empirischen Wissenschaft" abgezeichnet habe, kommen sie zu den Ergebnissen, dass in der Folgezeit erstens eine "Präzisierung der Problemstellung einer empirischen Psychologie" erreicht wurde, zweitens "wichtige Teilstücke einer Lösungsstrategie erarbeitet" wurden und es schließlich drittens "zu intersubjektiver Verständigung auf Problemstellung und Lösungsstrategie" gekommen sei. Gerade Kants Einfluss sei hierfür von besonderer Bedeutung gewesen, verstehe sich die empirische Psychologie um 1800 doch zumindest teilweise als "konsequente Fortführung" seiner Transzendentalphilosophie und als "Konkurrenzunternehmen" zum nachkantischen Transzendentalen Idealismus.

R. L.

Titelbild

Georg Eckardt / Matthias John / Temilo van Zantwijk / Paul Ziche: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Die Wissenschaft vom Menschen zwischen Physiologie und Philosophie.
Böhlau Verlag, Köln 2001.
369 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3412141003

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