Ich habe die Absicht, mit Worten zu tanzen

Peter Utz untersucht Robert Walsers "Jetztzeitstil" in kontextualisierenden Lektüren

Von Thomas BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Titel "Tanz auf den Rändern" bringt Peter Utz Walsers Schreiben in ein Begriffsbild und verweist zugleich auf die Leitmetapher, der seine Lektüren nachgehen. Walsers Wortschöpfung "Jetztzeitstil" entstammt einer Selbstaufforderung des Erzählers im "Räuber"-Roman; und nicht in der Dachkammer des armen Poeten, sondern in seinem "Jetztzeitzimmer" situiert sich der Aufsatz-Schreiber - dem entsprechend zeigt Utz statt der vermeintlichen Weltabgewandtheit des eigenbrötlerischen Autors die intensive dialektische Nähe von Walsers Schreiben zu zeitgenössischen Diskursen der (Frühen) Moderne. Der Titel bleibt nicht nur Etikett. Das Buch ist ein gelungenes Beispiel für interpretatorischen Umgang mit Sprachfiguren in literarischen Texten.

"Meine kleinen Prosastücke beliebt mir mit kleinen Tänzerinnen zu vergleichen, die so lange tanzen, bis man sie vollständig verbraucht sind [sic!] und vor Müdigkeit hinsinken." So Robert Walser 1927, gegen Ende seiner öffentlichen literarischen Laufbahn. Der Tanz als Leitdiskurs der ästhetischen Erneuerungsbewegungen der Jahrhundertwende bzw. seit Nietzsche - man denke an die Pawlowa und die Ballets Russes, andererseits an Loïe Fuller, Isadora Duncan und den Ausdruckstanz, an denen sich der Tanzdiskurs der Literaten entzündet - bildet den Kontext für die diskursanalytische Rekonstruktion von Walsers eigentümlicher Textdynamik: "Als Schreibtischtänzer übersetzt Walser die Tänze seiner Zeit in eine freie Bewegungsfigur seiner eigenen Schrift." Utz demonstriert dies einmal an Walsers Tanzfeuilletons, weiter an Walsers Feuilletontexten als "tänzerischer" Schreibform sowie an der reflexiven Metapher des Tanzes im Gesamtwerk. Tänzerisch ist Walsers Schreiben, so Utz, indem es Sprache dynamisiert und musikalisiert, indem es sich verwandelt, Raum kreiert, Grenzen überspielt und den Augenblick gestaltet. "Der Tänzer" Walsers (1914) stößt sich scheinbar endlos ab aus der Schwerkraft der Realität: "Wenn er aus der Luft niederschwebte, so war es weniger ein Fallen als ein Fliegen, ähnlich wie ein großer Vogel fliegt, der nicht fallen kann, und wenn er den Boden wieder mit seinen leichten Füßen berührte, so setzte er auch sogleich wieder zu neuen kühnen Schritten und Sprüngen an, als sei es ihm unmöglich, je mit Tanzen und Schweben aufzuhören, als wolle, als solle, als müsse er unaufhörlich weitertanzen."

Walsers geschriebene "Tanz"-Figuren, auch als reflexive Schreibmetaphern, konstituieren sich aber zugleich (Utz hätte vielleicht den Aspekt textinterner Widersprüche systematischer akzentuieren können) aus unerfüllbarem Bewegungsversprechen, als Zwangsfigur, im Modus der Latenz oder Irrealität ("Wie tanzen und dichten nur unsere Träume"), aus Beobachtungsdistanz, fixierten Zeichen, diskursiven Brüchen, paradoxer Reflexion.

Utz bietet eine instruktive Einführung in Walsers Schreibverfahren anhand der ausgewählten Themen: beginnend mit der Randfigur Aschenbrödel und Walsers künstlich-kunstvoller Dynamisierung der Gattung Dramolett. In Durchgängen durch das gesamte Werk (einschließlich der "Mikrogramme") rekonstruiert Utz Walsers eigensinnige Auseinandersetzung mit Diskursen der Zeit: mit der "Nervosität" als Zeitkrankheit, mit der Katastrophenfaszination und den Welt-Untergangs-Visionen des Zeitalters, dem literarischen Alpen-Mythos, der Zeit-Ikone Nietzsche und dem literarische Zeit-Idol Kleist.

Walsers spezifische Modernität erweist sich als geignetes und irritierendes Objekt für - heute gängige - medial orientierte Fragestellungen. So widmet sich Utz dem Stimmengewirr und den neuen Medien der Zeit (Telephon, Grammophon, Radio), auf die Walser mit inszenierten Kommunikationsformen "des redenden Hörens, des gehörten Redens" antwortet, sowie der Verschlingung der Diskurse und Walsers Erweiterung literrischer Souveränität in der Randgattung Feuilleton.

Gegenüber dem von Benjamin geprägten Topos der "Geschwätzigkeit" erweitert Utz Walsers literarische Oralität um den - nicht recht glücklichen - Begriff der "Ohralilät", in dem sich "akustische Sensibilität" und "stimmhaftes Schreiben" verschränken, Schrift und Sprachklang interferieren. Mit oben genannten Kommunikatiosformen und inszenierten Synästesien (etwa: Klänge der Stille und Sprechen der Bilder) eröffnen sich im Textprozess Spielräume der Autoreflexivität.

Weiter rekonstruiert Utz Walsers Modelle umwegiger Sinnsuche in der topologischen Figur des Labyrinths und, zum rahmenden Schluss, die Bewegungsfigur des Tanzes, die Utz als Thema schon 1984 in einem Aufsatz behandelt hat.

In seiner Untersuchung liefert er auch ein schönes Sprachbilder-Buch der Zeit - und einehmende, anregende Beispiele detaillierter Lektüre, wobei der der Leser selbst entscheiden mag, ob eine intertextuelle Proposition für die Interpretation des Textes relevant ist und wie weit er Utz folgt. Die Kontextualiserung von Walsers Texten bedeutet hier keine Einordnung in Klassifikationen der Epoche, sondern zeichnet nach, wie sie zeitgenössische Begriffsverwendungen mimetisch-kritisch weiterdrehen.

Denn Walsers ästhetische Distanzierung und kreative Subversion von Zeitdiskursen realisieren sich - in dem von Utz gewählten Beobachtungszusammenhang - als "tänzerischer" Bewegungsimpuls der Textdynamik und im "klanglichen Zusammenhang von Sprachspiel und Sprachkritik". ",Musik' oder ,Tanz' sind Metaphern", so Utz, "welche die Grenzen des eigenen Mediums metaphorisch zugleich markieren und überschreiten." Verallgemeinerungen wie diese sind Stationen, auf denen Utz sich nicht ausruht. Er demonstriert seine Lektüren (begleitet von der Konstruktion von Diskurselementen) im Detail, in anregenden Folgerungen und Verknüpfungen, auch wenn man im einzelnen so weit nicht gehen würde oder anderswohin.

Die Argumentation ist kein akademischer Tanz um Walser, sondern ein Versuch, mit Walser zu tanzen. Utz bedient sich selbst immer wieder (und gelegentlich vorschnell) der Tanzmetaphorik. Er lädt ein zum Spiel mit Walsers Verwandlungen: "Deshalb muß man, wenn man sich lesend auf diesen Tanz einläßt, damit rechnen, daß einem Walser immer wieder entgleitet - schon ist er weitergetanzt. Das ist das Faszinierende, das ist das Tänzerische an Walser: daß er einen nie losläßt, weil man ihn nie zu fassen bekommt."

Titelbild

Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers "Jetztzeitstil".
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
529 Seiten, 20,80 EUR.
ISBN-10: 3518409654

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch