Eine Frau Himmels und der Erden
Zu einer neuen Ausgabe von Rilkes Gedichtzyklus "Das Marien-Leben"
Von Stefan Schank
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRilke schrieb den Zyklus "Das Marien-Leben" innerhalb weniger Tage während seines Aufenthalts auf Schloss Duino im Winter 1911/12. Unmittelbar danach entstanden die ersten "Duineser Elegien". Dies und die Tatsache, dass sich der Gedanke an eine lyrische Darstellung des Lebens der Maria bis in Rilkes Worpsweder Zeit zurückverfolgen lässt, hat dazu geführt, dass die Forschung den Gedichtkreis häufig als ein Nebenprodukt des so viel imposanteren Elegien-Werks betrachtet hat. Der Dichter selbst hat einer solchen Deutung den Weg gewiesen, da er sein Werk in Selbstaussagen als das "kleine 'Marien-Leben'" (an Lou Andreas-Salomé, 24. Januar 1912; ebenso an Ilse Sadée am 24. Januar 1913), als "eine ganz ganz kleine Sache" (an Karl von der Heydt, 26. Dezember 1912) oder als "eine kleine Nebenarbeit" (an Amélie de Gamerra, 22. Januar 1920) bezeichnet hat. Richard Exners neue Ausgabe des "Marien-Lebens" sollte künftige Interpreten gegenüber den Selbstdeutungen Rilkes kritisch stimmen und zu einer Aufwertung des Zyklus als eines eigenständigen Kunstwerks von hohem literarischem Rang beitragen.
Es ist eine schöne Ausgabe des "Marien-Lebens", die der Insel-Verlag da veranstaltet hat, und der Hinweis "Mit farbigen Abbildungen" im Titeldatensatz stellt eine fast respektlose Untertreibung dar, bezieht er sich doch unter anderem auf Gemälde Tizians, Tintorettos, Poussins und El Grecos, die Rilke selbst als wichtige Einflüsse für seinen Zyklus benannt hat. Treffend dagegen ist die Formulierung "Vorgestellt von Richard Exner". Denn Exner tut mehr als die Gedichte bloß 'herauszugeben'. Er begleitet den Leser durch das von ihm gestaltete Buch, erläutert Einflüsse und Quellen, Rilkes poetisches Verfahren der Aneignung und Verwandlung, die Genauigkeit seiner Sprache und die Herausbildung der für Rilke typischen "genauen 'objective correlatives'" womit Exner "Ein-Bildungen" meint, "sprachliche und metaphysische ins Objektive übertragene Konkretisierungen einer ans Äußerste getriebenen Existenz".
Der Herausgeber meldet sich immer wieder im Buch zu Wort, doch stehen Rilkes Texte und die Quellentexte stets im Mittelpunkt. Die ursprüngliche Gestalt des Zyklus - dreizehn Gedichte, wobei "Vom Tode Mariae" einen eigenen dreiteiligen Zyklus bildet - erweitert Exner um die Anfang 1913 in Spanien entstandenen, zu Rilkes Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Gedichte "Himmelfahrt Mariae I-II". Diese Veränderung der ursprünglichen Textgestalt scheint mir nicht hinreichend begründet. Beide späteren Gedichte hätten meiner Ansicht nach ebenso gut in die Gedichte aus dem Umkreis des ,Marien-Lebens"' eingeordnet werden können. Die Einordnung von Abbildungen der Gemälde, die Rilke beeinflusst haben, in die Abfolge der Texte macht demgegenüber einen besonderen Reiz des Bandes aus, denn dadurch wird die enge Beziehung zwischen Text und Bild unmittelbar anschaulich. Neben dem erweiterten Text-Korpus des "Marien-Lebens" enthält die Ausgabe ausgewählte Quellen und Texte zum "Marien-Leben" - darunter Auszüge aus dem "Malerbuch vom Berge Athos" und der von Rilke benutzten deutschen Übersetzung von Ribadeneiras Darstellung des Lebens Marias -, Selbstaussagen Rilkes zum Zyklus und Gedichte aus dem Umkreis des "Marien-Lebens". Bei der Zusammenstellung der Texte verfolgte der Herausgeber nicht das Ziel, Vollständigkeit zu erreichen, sondern aufzuzeigen, in wie vielfältiger Weise das "Marien-Leben" mit Rilkes Leben, mit seiner dichterischen und persönlichen Entwicklung verwoben ist.
In seinen Erläuterungen vor und nach den Gedichten des Zyklus, in seiner Vorbemerkung zu den Materialien und in seinem Nachwort mit "Notizen zur Interpretation des Zyklus" strebt der Herausgeber keine abschließende Deutung des Werks an. Er entwickelt seine Argumentationen aus den Grundthesen, dass die Gottesmutter für den von einer strenggläubigen katholischen Mutter erzogenen Rainer Maria Rilke ein "unveräußerliches Erbe" (S. 71) und "ein Frau Himmels und der Erden" gewesen sei: eine irdische Frau, die Schmerzen und Freuden erfährt. Von diesen Grundthesen ausgehend, nähert sich Exner den Texten, die trotz ihres starken Zusammenhalts "von unterschiedlicher sprachlicher Dichte, von unterschiedlicher narrativer Struktur und sehr verschieden in der Rollen- und Stimmenverteilung" sind. Exner versucht nicht, die Verschiedenheit der Texte und die Vielschichtigkeit von Rilkes Sprache in einer fragwürdigen Synthese aufzulösen oder unter einen einprägsamen Oberbegriff zu zwingen. Er erläutert die komplexen Entstehensbedingungen der Gedichte - biographische und psychologische Zusammenhänge, poetische und sprachliche Entwicklungen in Rilkes Œuvre, den Einfluss der Quellen - und fordert vehement vom Leser, sich intensiv und frei von vorgeprägten Urteilen auf die Texte einzulassen, um sie zu verstehen. Das 'Verstehen', das Exner sucht, ist jedoch nicht identisch mit 'Deuten' oder 'Einsehen'; er lässt die 'beunruhigende Einfachheit' der Texte Rilkes stehen, er setzt sich ihr aus und rät dem Leser, das Gleiche zu tun. Bei einer solchen gewissermaßen 'ganzheitlichen' Lektüre ist nicht die Theoriefestigkeit des Lesers oder Interpreten gefordert, sondern seine Fähigkeit, offen zu sein für das Fremde, das jeder literarische Text von Rang darstellt. Und dass es sich bei Rilkes "Marien-Leben" um eine großartige Dichtung handelt, daran sollte spätestens nach der Lektüre dieser Ausgabe kein Zweifel mehr bestehen.
|
||