Behandlungstechnik

Marina Leitners Darstellung der psychoanalytischen Praxis und ihrer Institutionalisierung

Von Julia EstorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Estor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das vorliegende Buch widmet sich einem grundlegenden Problem der Psychoanalyse". So beginnt André Haynals Vorwort zu Marina Leitners Expedition in die Geschichte der psychoanalytischen Behandlungstechnik. Und eben diese bezeichnet er als "Problem", das er mit der diskreditierenden Frage verbindet, "ob es so etwas wie psychoanalytische Technik überhaupt gibt". Diese Frage drängt sich auch dem Leser bei der Beschäftigung mit Leitners Untersuchung auf, in der die promovierte Psychologin kritisch und schonungslos, aber ohne das in der Psychoanalyse angelegte Potential und die ihr gebührenden Verdienste zu vernachlässigen, die beträchtlichen Fehl- und Rückschläge in der Ausübung der Psychoanalyse ergründet.

Eingangs formuliert Leitner die Hypothese, dass sich die individuelle Aneignung der analytischen Therapie bar jeder Vorgaben gemäß der Trial-and-Error-Methode vollzog. Dieses Vabanquespiel wurde weitestgehend im Dunklen inszeniert, hätte doch ein offen geführter Technikdiskurs die blinden Flecken allzu leicht enthüllen können.

Anhand der Behandlungsgeschichten von Cäcilie M., Emmy von N., Lucy R., Elisabeth von R., Katharina, Emma Eckstein, Dora und Herrn E. exemplifiziert Leitner die therapeutische Technik Freuds. Evident ist, dass auch Freud nicht als Meister vom Himmel gefallen war: Patienten kehrten ihm aufgrund seines autoritären und direktiven Stils den Rücken, und er oszillierte unstet zwischen verschiedenen Behandlungskonzepten, die er in der Therapie seiner Patienten erprobte. Auch die "heillose Vermischung der privaten, beruflichen und therapeutischen Ebene" war keine Seltenheit. Folglich waren die ersten Schritte im psychoanalytischen Terrain recht wackelig und die Vorläufer der Psychoanalyse eingebettet in beschwerliche Probeläufe.

Angesichts des prosaischen Themas illustriert Leitner den freudschen 'Werdegang' überaus anregend: Seine Erprobung der Methode der freien Assoziation, die Trennung der kathartischen Methode von der Hypnose wie auch seine erste Anwendung des Konzeptes der Nachträglichkeit repräsentieren die Marksteine auf dem Weg zur "eigentlichen Psychoanalyse", die 1896 aus der Taufe gehoben wurde. Ebenfalls in dieses Jahr fiel Freuds Veröffentlichung der - später wieder verworfenen - Verführungstheorie, und im darauf folgenden Jahr erklärte er den Ödipuskomplex zum zentralen Ereignis für die frühe psychische Entwicklung. Trotz dieser richtungweisenden Eckpfeiler blieb die praktische Anwendung der Psychoanalyse nebulös.

Wilhelm Stekel praktizierte die Psychoanalyse im Jahr 1903 als einer der ersten nach Freuds Vorbild. In einem Beitrag über "Die Freudsche psychoanalytische Methode" von 1904 und der 1905 veröffentlichten Fallgeschichte der fehlgeschlagenen Analyse der Patientin Dora enthüllte Freud endlich einige Einzelheiten über seine therapeutische Technik, doch noch immer zu wenig, um die praktische Psychoanalyse gemäß dieser Beschreibungen erlernen zu können. So kam die Psychoanalyse gewissermaßen nach eigenem Ermessen zur Anwendung. Hier bestätigt sich Leitners Anfangshypothese, denn es wird deutlich, "dass die Angaben Freuds zur konkreten Ausübung der Technik der Psychoanalyse derart global und dürftig waren, dass jeder, der diese Methode lernte, notwendigerweise seine eigene Technik entwickeln musste".

Überdies blieb Freud bis 1908 der einzige Analytiker, der von seiner Tätigkeit leben konnte. Karl Abraham und Viktor Tausk waren die nächsten Analytiker in eigener Praxis und riefen mit ihm somit den Beruf des Psychoanalytikers ins Leben. Zwei Jahre später wurde die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet und C. G. Jung zum Präsidenten gewählt. Die Psychoanalyse entwickelte sich nun in Richtung einer rigide organisierten Gesellschaft mit Vereinscharakter. Jeder, der es wagte, von ihrer Leitlinie abzuweichen, wurde aus dem elitären Kreis verbannt. Nach erbitterten Machtkämpfen kehrten schließlich auch Jung, Adler, Rank und Stekel der Psychoanalyse, so wie Freud sie verstand, den Rücken.

In die Phase der auflodernden weltpolitischen Konfliktlage vor dem Ersten Weltkrieg fiel die Behandlung des Russen Pankejeffs, der aufgrund eines Angsttraumes, in dem weiße Wölfe als maßgeblicher Interpretationsgegenstand figurierten, der 'Wolfsmann' genannt wurde. Freud, der die Fallgeschichte des Wolfsmannes erst 1918 veröffentlichte, bewies hier einmal mehr seine Bereitschaft, die psychoanalytische Technik immer wieder in Frage zu stellen und Modifikationen vorzunehmen. So führte er die 'Terminsetzung' ein, gab dem Patienten also das Ende der Analyse bekannt, um damit dessen Bedürfnis, an der Erkrankung als vertraute Lebenskonstante festzuhalten, aufzulösen. Wie Leitner ausführt, zeigt die Therapie des Wolfsmannes abermals das für Freud und die junge Psychoanalyse "typische Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis". Obwohl Freud die Übertragung als notwendig im Analyseprozess erachtete, wurde sie von ihm im Wolfsmann nahezu ignoriert. Insbesondere der negativen Übertragung wurde in keiner seiner Fallgeschichten Beachtung geschenkt.

Die 'Lehranalyse' erschien bald als geeignetes Mittel zur Erlernung der psychoanalytischen Technik. Dies warf unter den gegebenen Umständen des bestehenden Wissensdefizits in der psychoanalytischen Ausübung freilich ein Dilemma auf: "Diese Generation wurde also mit einer für diese Zwecke unzureichenden Technik analysiert - und dies von Analytikern, die selber ihre Technik zu einem Zeitpunkt erlernten, als dies nach Freuds eigenen Worten noch nicht möglich war". Neben dieser Methode, sich in die Hände eines erfahrenen Psychoanalytikers zu begeben, um von dessen Erfahrungsschatz zu profitieren, kam man nun darin überein, dass das oberste Ziel der Analyse - wie Freud schon lange betonte - in der Beseitigung der Widerstände des Patienten zu finden sei. Davon abgesehen wurde weder in der Zeit des Ersten Weltkrieges noch in den Jahren danach das Geheimnis der exakten Anwendung gelüftet. In diesem Kontext konstatiert Leitner: "Interessant ist, dass in der Bibliographie über die wichtigste psychoanalytische Literatur im Jahre 1921 unter den 13 angeführten Rubriken keine über Therapie und Technik zu finden ist".

Um die Psychoanalyse ihrem peripheren Status innerhalb der Wissenschaft als auch der Medizin zu entheben, wurde schließlich im Februar 1920 die Berliner Poliklinik und kurz darauf das Berliner Institut eröffnet. Weitere psychoanalytische Vereinigungen wurden gegründet und zeugten von dem neuerlichen Aufschwung der Psychoanalyse, die nun vielfältigen Veränderungen unterworfen wurde. So konnte Freud mit neuen Modellen und Konzepten wie z. B. dem Konzept des Todestriebes aufwarten. Dies waren die Säulen einer neuen, etablierten Psychoanalyse, die mit der Gründung der Poliklinik ihren Anfang nahm. Auf eine Konstante in der Geschichte der Psychoanalyse macht Leitner in ihren abschließenden Bemerkungen fast ein wenig resigniert aufmerksam: "Freuds therapeutische Technik hatte auch nach 1920 nur entfernte Ähnlichkeit mit seinen schriftlich formulierten Regeln".

Die Autorin zeigt in ihrer historischen Studie eine ausgeprägte Liebe zum Detail, welche sich zuweilen als harte Nervenprobe für den Leser erweist. Zwar weit davon entfernt, die Spannung einer Kriminalgeschichte zu erzeugen, versteht es Leitner mit ihrer vortrefflich recherchierten Studie bestens, die Wurzeln der Psychoanalyse freizulegen und die großen Meister der Psychoanalyse wie Freud, Adler und Jung sowie Ferenczi, Stekel, Rank und Abraham ein Stück weit zu entmythologisieren, aber nicht - und das ist wichtig - zu entthronen. Leitners Wiedergabe des vertraulichen Briefverkehrs zwischen ihnen, ihre Darstellung der Entstehungs- und Rahmenbedingungen der Psychoanalyse als Wissenschaft und Therapietechnik sowie der motivationalen Handlungsgrundlagen dieser frühen Analytiker lassen diese im Nachhinein als wohltuend greifbar und beseelt erscheinen.

Titelbild

Marina Leitner: Ein gut gehütetes Geheimnis. Die Geschichte der psychoanalytischen Behandlungs-Technik.
Psychosozial-Verlag, Giessen 2001.
446 Seiten, 35,30 EUR.
ISBN-10: 3898060462

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