Hitler und seine Männer
Der Bremer Historiker Lothar Machtan will Hitlers homosexuelle Neigung entdeckt haben
Von Oliver Georgi
Die Figur des 20. Jahrhunderts, über die die meisten Mono- und Biographien geschrieben wurden, ohne dass man ihr schlussendlich restlos auf die Spur gekommen wäre, ist wohl Adolf Hitler. War die Beschäftigung mit den Gräueltaten des "Dritten Reichs" und der Psychopathie seines Reichskanzlers in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland noch in weiten Teilen ein Tabu und fast ausschließlich eine Sache von ausländischen Historikern, so wurde das historiographische Bild Hitlers nicht zuletzt durch deutsche Arbeiten wie etwa Joachim Fests Biographie mit der Zeit immer vielschichtiger. Zwar bleibt Hitlers Pathologie wohl auf immer ein Rätsel, aber seine Person ist heutzutage in den Umrissen erforscht. Vor allem die Arbeitsleistung des englischen Historikers Ian Kershaw, der eine mehrtausendseitige Hitlerbiographie vorlegte, hat hier zur Klärung eines Tabus und zur plastischeren Gestaltung des Phantoms Hitler entscheidend beigetragen.
Kein wirklicher Grund, so möchte man denken, kurz nach Kershaws Biographie eine neue zu erarbeiten und auf den Markt zu bringen. Weit gefehlt: Der Bremer Historiker Lothar Machtan vertritt den Anspruch, ein neues Kapitel der Hitler-Forschung aufzuschlagen. Als "Sensation" wird angekündigt, was "unseren Blick auf Hitler tiefgreifend verändern" soll. Und richtig: Machtan glaubt eine Seite des Diktators entdeckt zu haben, die bislang nur Gerüchte halber kursierte. Hitler, so Machtans These, war homosexuell und unterhielt mit vielen seiner engsten Untergebenen erotische Beziehungen, darunter mit Ernst Röhm, aber auch Ernst Hanfstaengl, Rudolf Hess oder Albert Speer. Aus Angst vor Denunziationen habe Hitler seinen Freund Röhm umbringen lassen; darüber hinaus müssten von der Wissenschaft längst als "durchforscht" geltende Maßnahmen wie etwa die Verfolgung Homosexueller unter diesem Gesichtspunkt neu bewertet werden.
Seit seiner Jugend sei sich Hitler seiner Homosexualität bewusst gewesen. Doch habe er sie weder leben noch verdrängen können und Zeit seines Lebens als "Schauspieler" seine Neigung verborgen - Hitler habe das "Stigma seines Trieblebens zugleich zu kaschieren und für sich zu nutzen" versucht und sich damit angreifbar und erpressbar gemacht.
Lothar Machtan legt jedoch nicht einen einzigen Beweis vor, der die vermeintliche Homosexualität Hitlers belegen könnte. Zwar enthalten die Freundschaftsschilderungen der elf genannten Männer zu Hitler allerlei interessante Details, die einer weiteren Betrachtung durchaus wert sind - etwa die Tatsache, dass Hitler in den frühen Zwanziger Jahren häufig in der Wohnung seines späteren Leibpianisten Ernst Hanfstaengl Gast war, sich mit dessen kleinem Sohn Egon beschäftigte und sich gar "als Teil der jungen Familie gefühlt" habe. Doch aus derartigen Tatsachen auf eine latente Homosexualität Hitlers zu schließen, erscheint fraglich.
So erwähnt Machtan beispielsweise das Verhältnis eben jenes Hanfstaengl zu Hitler und legt dar, wie der Pianist dem Diktator immer wieder Wagner auf dem Klavier habe vorspielen müssen: "Mehr als alles andere aber liebte Hitler es, wenn Hanfstaengl mit seinem ,ziemlich aufbrausenden Temperament' das etwas ,wackelige Piano' im möblierten Zimmer in der Thierschstraße ,emphatisch' traktierte [...]. Und Hitler schrie fast vor Begeisterung: ,Ja, Hanfstaengl! [...] Wunderbar!'"
Machtan mutmaßt, dass "auf gleichsam kompensatorischem Weg über die Musik sinnliche Bedürfnisse" bei Hitler befriedigt worden seien. Hanfstaengl habe die Klaviersymbolik noch Jahrzehnte später genutzt, um "sich andeutungsweise über Hitlers Sexualität zu äußern". Hier gibt Machtan selbst den "andeutenden" Charakter seiner These zu und verweist jene unbedacht ins Reich des Verdachts. An anderer Stelle vermutet Machtan, Hitlers Beziehungen zu Magda Quant und auch Eva Braun seien lediglich Alibibündnisse gewesen, die des Diktators Glaubwürdigkeit und Integrität in der Öffentlichkeit hätten wahren sollen: "Denn als öffentliche Person konnte [Hitler] die Frage nach dem Grund für seine Ehescheu eben nicht ewig unbeantwortet lassen, weder für seine Anhänger noch für seine Gegner."
Im Vorwort zu "Hitlers Geheimnis" gesteht der Bremer Historiker die fehlende Tiefe seines "Indiziennetzes" selbst ein, wenn er sagt: "Indes kommt ein Deutungsversuch wie dieser zunächst einem Sprung ins Dunkle gleich. Zwar gibt es Gründe, die ihn wissenschaftlich rechtfertigen, aber so gut wie keine Grundlagenforschung, auf die man sich dabei stützen könnte. [...] Mag sein, dass meine re-konstruktierende Deutung einer unvermeidlich bruchstückhaften Überlieferung hier und da als zu suggestiv empfunden wird."
Selbst der "Tabubruch", den Machtan begangen haben will, ist keiner, darf keiner sein, weil von unbedachten Zeitgenossen angenommen werden könnte, dass Homophilie und Massenmord irgend etwas miteinander zu tun hätten.
Selbstverständlich ist es gut möglich, dass Hitler homosexuell war - an seiner Perfidie, Menschenverachtung und seinem Wahnsinn änderte dies absolut nichts. In einem solchen Fall nämlich würde die Homosexualität nach lange erkämpfter, zumindest gesetzlich fast erreichter Normalität in den unschmeichelhaften Rang eines Erklärungsversuches, einer Art Hilfslegitimation zum Verständnis von Hitlers Handeln erhoben. Doch Lothar Machtan hat die Gefährlichkeit der These selbst erkannt: "Hitlers Vernichtungspolitik lässt sich nicht aus dessen verdrängter Homosexualität erklären."
Nach "Hitlers Helfern", "Hitlers Frauen", "Hitlers Kindern", "Hitlers Dienern" sowie "Hitlers willigen Vollstreckern" nun also noch "Hitlers Homosexualität". Bleibt zu hoffen, dass die hier geschilderte Reihe keine allzu lange Fortsetzung erfährt - sonst gerät der Versuch, eine krankhafte Pathologie durch Detailkenntnis zu erklären und Ähnliches für die Zukunft zu verhindern, zur unfreiwilligen Schaffung eines neuen Phantombilds.