Verstehen, Nicht-Verstehen, Schein-Verstehen

Über eine neue Einführung in Luhmanns Systemtheorie für Studierende der Geschichts- und Kulturwissenschaften

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Klagen über die Unverständlichkeit seiner Wissenschaftsprosa rührten Niklas Luhmann wenig: "Es ist ganz gewiß nicht möglich, die Theoriesprache nach dem Konvoiprinzip zu fahren und auf das Verständnis des Letzten zu warten." Angesichts der Komplexität der von ihm beobachteten Probleme wünschte er sich vielmehr "Sprachformen [...], die ein hinreichendes Maß an Vorbehalten mitvermitteln und ein zu rasches Verstehen verhindern."

Wer dennoch schnelle Anschlussoptionen sucht, setzt auf Einführungen, die Komplexitätsreduktionen versprechen und damit die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit erfolgreicher Kommunikation, vulgo Verstehen. Zu Luhmanns labyrinthischer Systemtheorie liegt längst eine Reihe solcher short cuts vor, überwiegend auf hohem Niveau. Für Anfänger empfehlenswert sind die Darstellungen von Georg Kneer/Armin Nassehi ("Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme"), Walter Reese-Schäfer ("Luhmann zur Einführung", siehe die Rezension in literaturkritik.de https://literaturkritik.de/txt/2000-03-48.html) und, besonders originell, Peter Fuchs ("Niklas Luhmann - beobachtet"). Der Markt scheint also, auf absehbare Zeit, gesättigt. Wer jetzt noch kommt, steht unter verstärktem Legitimationsdruck. Franz Becker, Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster, und Elke Reinhardt-Becker, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität-GH Essen, haben nun eine eigens für die "Geschichts- und Kulturwissenschaften" konzipierte Luhmann-Einführung vorgelegt: "Keine Theoriedarstellung um der Theorie willen", sondern sozusagen anwendungsorientiert: der lernwillige Leser der studentischen Zielgruppe soll "erfahren: was Systemtheorie überhaupt ist, und was man als Historiker oder Kulturwissenschaftler damit anfangen kann."

Im Unterschied zu anderen Einführungen verzichten die Autoren nicht nur auf Fußnoten und Literaturverweise, sondern generell auf Luhmann-Zitate, was zwar die Lektüre erleichtern mag, dem Leser aber die Möglichkeit nimmt, für Luhmanns Duktus, seine "heilige Nüchternheit", seinen trockenen Witz, Feuer zu fangen. Sei's drum. Als Verstehenshilfe gedacht sind eine Reihe von graphischen Darstellungen, von denen nur wenige ihre Herkunft aus dem Seminaralltag leugnen können. (Dass sich Luhmanns Theoreme durchaus auch graphisch präsentieren lassen, belegt das mittlerweilen in der dritten Auflage erschienene, sehr empfehlenswerte "Luhmann-Lexikon" von Detlef Krause.)

Von der transparenzerzeugenden Komplexitätsreduktion zur simplifizierenden Trivialisierung ist es mitunter nur ein kleiner Schritt. Möglichst voraussetzungslos führen die Autoren in grundlegende Begriffe der Systemtheorie ein und reproduzieren dabei, vor allem im ersten Teil des Buches, oft genug nur Alltagsverständnis: "Systeme sind Mengen von Elementen, zwischen denen Wechselbeziehungen bestehen. Alles, was nicht Element des Systems ist, was nicht dazu gehört, ist dessen Umwelt." Na, das ist ja einfach. So einfach wie Luhmanns "Komplexitäts"-Begriff, der die "Intensität der Vernetzung" der Elemente bezeichnen soll: "Auch die Umwelt eines Systems kann mehr oder weniger komplex sein, je nachdem, wie hoch die Dichte der Vernetzung ihrer Bestandteile ist."

Derart unscharfe Formulierungen dürften wohl eher ein Schein-Verständnis erzeugen, die Illusion von Transparenz. Wer wissen will, was Luhmanns Systemtheorie tatsächlich unter diesen Begriffen versteht, schlägt besser im Luhmann-Glossar "GLU" von Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito nach. Symptomatisch für die Unschärfe, mit der es Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker sich und dem Leser leichter machen wollen, auch der folgende Satz zur Differenz von psychischem und sozialem System: Luhmann "erklärt weniger die psychischen Systeme selbst, als vielmehr ihre spezifischen Leistungen: die Kommunikationen, zu den Elementen, aus denen soziale Systeme bestehen." Das ist nicht nur schlechtes Deutsch: Sofern "weniger" "ein bisschen doch" impliziert, ist der Satz schlicht falsch; präzise wäre eine "nicht - sondern"-Konstruktion gewesen. Dass Kommunikation eine "Leistung" des psychischen Systems für das soziale ist, liest man hier wohl auch zum ersten Mal; statt dessen stellen sich nach Luhmann Bewusstsein und Kommunikation wechselseitig ihre Komplexität zur Verfügung (Stichwort Interpenetration). Simplifizierend sind auch Aussagen wie: "In der funktional differenzierten Gesellschaft kann ein Galileo Galilei jede beliebige wissenschaftliche Aussage treffen, ohne befürchten zu müssen, mit der Religion, dem Recht oder der Politik in Konflikt zu geraten." Aktuelle Debatten wie die um die Stammzellenforschung zeigen, wie unhaltbar ein solches Verständnis der funktionalen Differenzierung ist: Mag diese auch eine Fremdsteuerung eines Systems durch ein anderes ausschließen - Konflikte und wechselseitige Irritationsversuche zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen sind trotzdem an der Tagesordnung.

Wer auf dieser Ebene wie das Autorenpaar auch noch vollmundig Lücken in Luhmanns Theoriegebäude aufzeigen bzw. schließen will, beweist Mut. Diskussionswürdig ist da noch der Vorschlag, den Code für Intimsysteme im Codepaar Verstehen/Nicht-Verstehen zu bestimmen. Zweifellos, in der Liebe wird A zugemutet, B "zu verstehen", und wehe, wenn sich zeigt, dass er es nicht tut oder man sich die ganze Zeit über nur irrtümlich verstanden glaubte. Worin aber genau unterscheidet sich Verstehen in der Liebe von jenem Verstehen, wie es in jeder gelingenden Kommunikation ohnehin vollzogen wird?

Verwirrend ist aber, dass die Autoren Liebe in ein und demselben Absatz, ohne den Unterschied zu explizieren, einmal als "symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium", einmal als "Liebessystem" (im Sinne eines gesellschaftlichen Funktionssystems neben dem Wirtschafts- oder dem Wissenschaftssystem) behandeln; letzteres bezeichnet die Systemtheorie als "zwischenmenschliche Interpenetration", "Intimität" oder "Intimsysteme". Problematisch ist auch die mit dem Hinweis auf Luhmanns 1982, also vor seiner autopoietischen Wende erschienene Studie "Liebe als Passion" gerechtfertigte These: "Es gibt keine autopoietische Selbsterzeugung der Liebe. Wäre es anders, könnten diese Systeme nicht so ausgesprochen fragil sein."

Sofern es sich bei einem Intimsystem um ein soziales, also aus Kommunikationen bestehendes System handelt (und um was sollte es sich sonst handeln?) und soziale Systeme in der Systemtheorie zu den autopoietischen Systemen gerechnet werden, ist natürlich auch ein Intimsystem ein autopoietisches. Über die Autopoiesis, aber auch über die Gründe für die besonders hohe Fragilität von Intimsystemen informiert man sich da doch besser bei Peter Fuchs ("Liebe, Sex und solche Sachen") - oder in der Praxis.

Immerhin, die Autoren steigern sich und liefern in den späteren Teilen durchaus übersichtliche Darstellungen der einzelnen Subsysteme der Gesellschaft, wobei sie bemüht sind, stets auf das Anregungspotenzial für die Geschichtswissenschaft hinzuweisen. Wenig überraschend sehen sie als wichtigsten Beitrag Luhmanns die Theorie von der Evolution der Gesellschaftsdifferenzierung sowie den Luhmannschen Semantik-Begriff. Am Beispiel von systemtheoretischen Erklärungsversuchen von Humboldts Universitätsreform und dem Modell der romantischen Liebe sollen dem Studierenden der Geschichtswissenschaft musterhafte Anwendungen geliefert werden. Dass sie sich dabei der Form einer Seminararbeit bedienen, mag dem Konvoiprinzip geschuldet sein.

Titelbild

Franz Becker / Elke Reinhardt-Becker: Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
231 Seiten, 15,85 EUR.
ISBN-10: 359336848X

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