Marcel Proust oder Vom Glück des Lesens

Luzius Keller und Sibylla Laemmel vollenden ihre Proust-Revision

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang", schrieb Anatole France 1913 bei Erscheinen des ersten Bandes der "Recherche". Ein Urteil, das den Autor besonders geschmerzt haben dürfte, war doch Anatol France als einer seiner ersten Förderer für Proust eingestanden und hatte die Sammlung "Les plaisirs et les jours" (1896 bei Calmann-Lévy in Paris verlegt) mit einem freundlichen Vorwort begleitet: Prousts Erstling sei "ein junges Gesicht voll seltenen Reizes und feiner Grazie". Jetzt aber wollte France dem Autor nicht mehr folgen. Und dessen Verlagssuche war schon nicht einfach gewesen: Fasquelle und Gallimard hatten das ihnen undurchsichtig, zu lang und zu detailliert erscheinende Manuskript abgelehnt, und nun reagierte auch die Kritik mit Zurückhaltung. Doch nicht lange: Schon 1919 wendete sich das Blatt, und der Außenseiterkandidat erhielt den begehrten Prix Goncourt.

Proust, der 1922 starb, erlebte noch die erste Blüte seines späten Ruhmes, doch nur in Frankreich. Die deutschen Leser mussten auf ihre "Recherche" lange warten, obgleich Rilke schon 1914 auf "Du côté de chez Swann" hingewiesen hatte und den Insel-Verleger Anton Kippenberg für den neuen Autor zu gewinnen suchte: "sollte eine Übersetzung angeboten werden, wäre sie unbedingt zu nehmen". Am nachdrücklichsten warb der Romanist Ernst Robert Curtius (1886-1956) für Proust, musste dann aber - zu seinem Leidwesen - den ersten Versuch einer deutschen Fassung mit zu Grabe tragen: Rudolf Schottlaenders Übertragung "Der Weg zu Swann", 1925 im Verlag Die Schmiede erschienen, war seiner Meinung nach eine "liederliche Pfuscherei". Den zweiten Teil, "Im Schatten der jungen Mädchen", übertrugen dann bekanntlich Walter Benjamin und Franz Hessel. Doch ging dem Verlag die Puste aus, so dass der dritte Band, ebenfalls von Benjamin und Hessel übertragen, im Münchener Piper Verlag herauskam. Einen langen Atem schien jedoch auch Piper nicht zu haben. An Max Rychner schrieb Benjamin: "Seit kurzem, wie Sie vielleicht wissen, ein neuer Verleger, der sich ebenso wenig wie sein Vorgänger zu der Erkenntnis durchringen kann, dass Proust nur als Œuvre, nicht in einzelnen Bänden in Deutschland durchgesetzt werden kann."

Von 1933 an durften die Bücher des Halbjuden und Homosexuellen in Deutschland nicht mehr verbreitet werden, und die unveröffentlichten Teile der Hessel-/Benjaminschen Übersetzung - "Sodom und Gomorra" war 1929 in der deutschen Fassung bereits "seit Jahren" fertig - gingen verloren. Erst von Peter Suhrkamp und seinem Verlag ging 1949 eine ernst zu nehmende Initiative aus, Proust in Deutschland zu verlegen. Hermann und besonders Ninon Hesse hatten sich wiederholt bei Suhrkamp für Proust eingesetzt, und mit Eva Rechel-Mertens (1895-1981), die bei Curtius über "Balzac und die bildende Kunst" promoviert hatte, war bald eine Übersetzerin für "den ganzen Proust" gefunden. Im Herbst 1953 erschien der erste Band, die übrigen sechs Teile wurden zügig bis 1957 vorgelegt.

Circa 400.000 Käufer haben die Bücher in Deutschland gefunden: die erste vollständige siebenbändige Ausgabe von 1953 bis 1957, die dreibändige Dünndruckausgabe von 1969, die 13bändige leinenkaschierte Taschenbuchausgabe in der edition suhrkamp (1964), die zehnbändige marmorierte Schmuckausgabe (1979), die zehnbändige (1993) und die dreibändige (2000) Paperback-Ausgabe.

Seit Ende der 80er Jahre würdigt der Suhrkamp Verlag den bedeutenden Autor mit einer umfassenden Werkausgabe. Als Herausgeber wurde der Zürcher Romanist Luzius Keller gewonnen, der zugleich als Übersetzer fungiert und der 1988 die erste vollständige deutsche Ausgabe von "Freuden und Tage" vorlegte. Keller zeichnet für den Kommentar der Frankfurter Ausgabe verantwortlich und sorgt - zusammen mit Sibylla Laemmel - dafür, dass die veränderte französische Textbasis, die durch die Entdeckung der Proustschen Entwürfe notwendig geworden ist, ihre deutsche Entsprechung findet. Die passagenweise von der Zeit eingeholte Übersetzung Eva Rechel-Mertens' wird von Keller und Laemmel teils behutsam, teils entschieden revidiert. Gleichwohl kann auch diese Lösung nur eine Annäherung an Proust sein, zumal doch auch Irreführendes oder gar falsch Übersetztes stehen geblieben ist, etwa wenn Marcel die "Reinheit" einer Komposition im Deutschen "aufsprühen" ("divisant sa candeur") lässt wie ein "ländliches, lilienhaftes Morgengrauen". Die zerteilten, radiär angeordneten Lilienblüten "entfalten" sich jedoch, wie Proust fein beobachtet hat - Präzision und Schönheit müssen sich also nicht widersprechen.

Der Anteil des revidierten Textes ist erstaunlich groß; gleichwohl zeigt es sich, dass die Entscheidung richtig war, die "Recherche" nicht völlig neu übertragen zu lassen, sondern mit Textkritik und Sprachgefühl Fehler abzubauen und die häufig allzu große Nähe zum Französischen in der deutschen Version abzumildern: "Kompass- und Direktionslosigkeit" werden so zu "Orientierungs- und Ziellosigkeit" und "liberale Laufbahnen" zu "freien Berufen". Umständliches wie "Aber gerade Liebe gab Robert im Gegenteil für Rahel noch zu fühlen vor" wird neu und vor allem klarer gefasst, wobei die Neufassung den mäandernden "Nil" (Benjamin) der französischen Nebensätze im Deutschen weitestgehend zu respektieren sucht.

Band 1 ("Unterwegs zu Swann") erschien 1994, Band 2 ("Im Schatten junger Mädchenblüte") 1995, Band 3 ("Guermantes") 1996, Band 4 ("Sodom und Gomorrha") 1999, Band 5 ("Die Gefangene") 2000 und Band 6 ("Die Flüchtige") im Dezember 2001. Der siebte und abschließende Band soll in diesem Jahr vorgelegt werden. Solange dieses Ausgabe noch nicht abgeschlossen ist, bietet der Suhrkamp Verlag auch den nicht revidierten, unkommentierten Text der "Recherche" in einer preisgünstigen Taschenbuchkassette an.

Titelbild

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 4. Sodom und Gomorrha. Frankfurter Ausgabe. Werke II, Band 4.
Herausgegeben von Luzius Keller.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
890 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3518410881

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Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 6. Die Flüchtige. Frankfurter Ausgabe. Werke II, Band 6.
Herausgegeben von Luzius Keller.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
502 Seiten, 32,80 EUR.
ISBN-10: 3518412922

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