Editorenkampf um Kafka

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter Literaturwissenschaftlern gehören die Editionsphilologen zu den streitbarsten. Ihr alter Kampf um Kafka eskalierte am 14. November 2001 erneut. Gemeldet wurde an diesem Tag, dass die Krupp-Stiftung die fotografische Erfassung sämtlicher Handschriften des Autors finanzieren wolle. Den Antrag an die Stiftung hatten der Gießener Kafka-Forscher Gerhard Kurz und der Mitarbeiter an der Kritischen Kafka-Ausgabe des S. Fischer Verlages Hans-Gerd Koch gestellt. Angekündigt wurde in diesem Zusammenhang weiterhin die Absicht, im Jahr 2004 die fotografierten Handschriften als Faksimiles zu veröffentlichen.

Eben das tut jedoch bereits seit sieben Jahren der Verlag Stroemfeld/Roter Stern. Zur Erinnerung: Kafka starb am 3. Juni 1924. 70 Jahre nach dem Tod eines Autors werden die Urheberrechte an seinem Werk frei. Seit 1995 wurden Kafkas Werke daher in verschiedensten Ausgaben von allen möglichen Verlagen verbreitet. Mit dem ehrgeizigsten und spektakulärsten Editionsprojekt nach der "Kritischen Ausgabe" bei Fischer trat jedoch am 2. Januar 1995 Stroemfeld/Roter Stern an die Öffentlichkeit. Er präsentierte die "Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte" mit einem Einleitungsband, der das Handschriften-Faksimile des Domkapitels aus Kafkas Romanfragment "Der Process" enthielt. Im Rahmen dieser Frankfurter Kafka Ausgabe (FKA) erschienen 1997 die Faksimile-Edition des ganzen Process-Romans und 1999 die "Beschreibungen eines Kampfes" (siehe literaturkritik.de 5-2000, https://literaturkritik.de/txt/2000-05/2000-05-0003.html). Inzwischen liegen auch die "Oxforder Quarthefte 1 & 2" mit Tagebucheintragungen und literarischen Textentwürfen aus der Zeit zwischen 1909 und 1912 vor.

Es ist verständlich, dass die Herausgeber Roland Reuß und Peter Staengle sowie der Verlag die angekündigte Veröffentlichung der faksimilierten Handschriften als Versuch werteten, ihre Edition "aus dem Felde zu schlagen". So formulierte es der Verleger K. D. Wolf in einer Presseerklärung, verwies auf eine eigene Antragsvorbereitung zur Förderung der Reproduktionskosten durch EU-Gelder, der nun kaum noch Chancen habe, und forderte: "Die geplanten Fotografien der Kafka-Handschriften sollten auch unserem Kafka-Editionsprojekt zur Verfügung gestellt werden!" Jede andere Regelung sei als Versuch anzusehen, "das Fortschreiten einer erfolgreichen wissenschaftlichen Initiative zu sabotieren."

Die Forderung scheint inzwischen erfüllt und der Streit beigelegt zu sein. Am 31. Januar gab die Krupp-Stiftung bekannt, dass Gerhard Kurz und Roland Reuß "für ihre Arbeit mit dem Nachlaß von Franz Kafka ein gemeinsam abgestimmtes Vorgehen vereinbart" haben. (http://www.textkritik.de/presse/20011126.html) Was immer das konkret heißen mag: Sicher dürfte sein, dass die von der Stiftung finanzierten Fotografien der Handschriften von Reuß und Staengle verwendet werden können. Wenn sie, wie sich vermuten lässt, auch im S. Fischer Verlag publiziert werden, erwächst ihrer Edition jedoch erhebliche Konkurrenz. Sie beschränkt sich zwar bei weitem nicht auf das Verfahren, auf der einen Buchseite die Handschrift und auf der gegenüberliegenden deren Transkription zu präsentieren, doch liegt gerade darin zweifellos ihre Attraktivität für Kafka-Liebhaber und Kafka-Forscher. Abgesehen vom Genuss an der sinnlichen Präsenz von Kafkas wunderbarer Handschrift und der Aura, die ihr auch noch in der technischen Reproduktion eigen ist, sind die Vorzüge einer solchen Präsentation für jeden, der diese Kritische Ausgabe mit der bei S. Fischer erschienenen vergleicht, sofort erkennbar. Auf einen Blick kann man sehen, wo und wie Kafka gestrichen, hinzugefügt oder korrigiert hat.

Hier nur zwei Beispiele: In den bisherigen Ausgaben der "Tagebücher" ist unter dem Datum 15. November 1910 zu lesen: "Ich werde mich nicht müde werden lassen. Ich werde in meine Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte." In der handschriftlichen Fassung entdeckt man gleich, was in der Kritischen Ausgabe des Verlages S. Fischer im editorischen Apparat zwar verzeichnet ist, doch dort von kaum einem Leser bemerkt werden dürfte. Zuerst hatte Kafka, der Gewalt- und Zerstörungsphantasie der Notiz entsprechend, "hineinsprengen" geschrieben und dann das e mit einem i überschrieben. Wer sich die Stelle in der Handschrift gleichsam mit der Lupe ansehen will, kann sie sich auf den Bildschirm seines PCs holen und vergrößern. Die Ausgabe liegt komplett auch als pdf-Datei vor. Sie ist auf einer CD den gedruckten Heften beigefügt.

Signifikante Verschreibungen oder Korrekturen dieser Art findet man bei Kafka zuhauf. Wer die alten Tagebucheditionen liest, dem bleibt folgende Größenphantasie Kafkas vorenthalten, weil dieser ihre Verschriftlichung durchgestrichen hat. Oder er muss sie erst im Kommentarband entdecken: "Die besondere Art meiner Inspiration in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um 2 Uhr nachts schlafen gehe sie wird vielleicht, wenn ich nur den Gedanken daran ertrage, bleiben, denn sie ist höher als alle früheren und zweifellos bin ich jetzt im Geistigen der Mittelpunkt von Prag". Was Kafka da durchgestrichen hat und dass er es durchgestrichen hat, ist bemerkenswert genug, um es nicht in einem Kommentarband untergehen zu lassen.

Gegenüber solchen Vorzügen haben einzelne kritische Distanzierungen von den Editionen des Fischer Verlages weit weniger Gewicht. Es ist gewiss richtig, dass der Titel "Tagebücher" den Charakter dessen, was in den Quartheften steht, nur unzulänglich charakterisiert. Sie setzen mit literarischen Aufzeichnungen ein, die Kafka vermutlich aus anderen Papieren abgeschrieben und dabei vielleicht auch umgeschrieben hat. Auch manche andere Korrektur an den Arbeiten der für S. Fischer tätigen Editoren ist durchaus plausibel. Andererseits sind die kommentierenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen deutlich lückenhafter als die in den "Gesammelten Werken in zwölf Bänden", die Hans Gerd Koch im Anschluss an die Kritische Ausgabe herausgegeben hat. Der Satz "Ich werde in meine Novelle hineinspr[e]ingen" wird im Editionsbericht beider Kritischen Ausgaben erwähnt, doch nicht kommentiert. Kochs Kommentar in den Gesammelten Werken ist da hilfreicher: "Ein Kommentar Kafkas zu seinen zahlreichen Versuchen, im Tagebuch einen Einstieg in die abgebrochene Niederschrift der zweiten Fassung von 'Beschreibungen eines Kampfes' zu finden und diese fortzuführen."

Kafka beschreibt hier den mit wütender Energie betriebenen Versuch, sein literarisches Schreiben nicht abbrechen zu lassen, selbst wiederum in Bildern eines Kampfes. Etwas von diesem kämpferischen Selbstverständnis scheint sich auf die Editoren seiner Werke übertragen zu haben. Einer legt in die Arbeiten des anderen immer wieder Sprengsätze hinein. Als Zuschauer muss man die Editionsleistungen jedoch nicht gegeneinander ausspielen. Sie ergänzen sich und bereichern unsere Kenntnisse über Kafka erheblich.

Thomas Anz

Titelbild

Franz Kafka: Oxforder Quartheft 1 & 2. Faksimile-Edition. 2 Bände, zusammen mit Franz Kafka-Hefte 3 und CD-ROM.
Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
454 Seiten, 114,00 EUR.
ISBN-10: 3878775024

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