"...da mußtu ma Mensch blaiben..."

Andreas Steffens philosophiert sich durchs Jahrhundert und kommt ungefähr bei Jürgen von Manger an

Von Joachim LandkammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Landkammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Allerwelts-Titel "Philosophie des 20. Jahrhunderts" erwartet man zunächst eine philosophiehistorische Abhandlung, die alle wesentlichen Personen und Strömungen der nicht nur europäischen und nicht nur akademischen Philosophie in sinnvoller Anordnung und Gliederung darstellt. Zu sagen, dieses Buch wolle mehr, ist insofern nicht ganz korrekt, weil es implizieren würde, dass es das immerhin auch will: dies ist aber gar nicht der Fall. Der Blick auf die Philosophien des letzten Jahrhunderts ist hier nur Nebenprodukt der Suche nach der Philosophie dieses Zeitraums, also nach so etwas wie der philosophischen Signatur, die dieses ereignisreiche Jahrhundert im Innersten zusammenhält; eine Philosophiegeschichte als Geschichtsphilosophie also, mit allen Risiken und Nebenwirkungen, die das - seit Hegel, Heidegger u. a. - mit sich bringt.

Aber vielleicht kennen wir die Defizite und short-comings einer geschichtsphilosophischen Rekonstruktion inzwischen so gut, dass wir sie heute wieder gegen etwaige "Vorteile" einer solchen Betrachtungsweise relativieren können; es wird also vom Erkenntniswert der je besonderen Perspektive, der neuen Affinitäten und ungeahnten Interpretationzusammenhänge abhängen, ob man dafür Verluste an enzyklopädischer Breite und Vollständigkeit, an Präzision im historischen Detail und an Treue zum Ursprungssinn der behandelten Texte in Kauf zu nehmen gewillt ist.

Steffens´ Fokus beim Rückblick auf das 20. Jahrhundert und seine Philosophie(n) ist die Sorge um "den Menschen": sowohl auf dem Gebiet der theoretischen Reflexion, also dort, wo Philosophen und Intellektuelle - uneingestanden oder nicht - "Anthropologie" betrieben haben, als auch auf dem der politischen Praxis, also dort, wo totalitäre Ideologien vom "Neuen Menschen" in die meist Menschen verachtende Tat umgesetzt wurden, wofür Steffens den Begriff der "Anthropolitik" bereithält. Diese beiden Ebenen müssen parallel geführt werden, weil sie nach Steffens in direktem Interaktionszusammenhang stehen: die Versäumnisse auf dem Gebiet der anthropologischen Reflexion sind verursacht gerade durch die "neue praktizierte Anthropologie"; weil die Praxis der "Bestimmung des Menschen" so katastrophale Folgen gezeitigt habe, sei die Theorie in defensiver Zurückhaltung verstummt (anderswo scheint Steffens jedoch auch auf einen umgekehrten Kausalzusammenhang hinauszuwollen: Das "Zurückschrecken der Philosophen vor der Endgültigkeit ihrer Begriffe wird dazu führen, daß sie ihnen aus der Hand genommen und zu Idolen eines Veränderungswillens erhoben werden, der die Anthropologie aufhebt, indem er sie in einer Anthropolitik zu verwirklichen unternimmt").

Unabhängig aber von der Ungeklärtheit dieser Beziehung trägt die Argumentation einer Ambivalenz nicht genügend Rechnung, die alles anthropologische Denken von Grund auf charakterisiert und die einen grundsätzlichen Vorbehalt ihr gegenüber legitimiert (ein Vorbehalt, der die "Bestätigung" durch politisch-geschichtliche Ereignisse und "Mißbräuche" gar nicht nötig hat); die Besorgnis, daß die Abstraktionsstufe "der Mensch" nur zu erklimmen ist um den Preis eines kollektivistischen Normativismus und einer ideologischen Entkonkretisierung und Entpolitisierung durch die Ausblendung der realen Macht- und Sozialverhältnisse. Zu beanstanden wäre also eine fast unumgängliche Hohlheit des "Mensch"-Begriffs, die an die appellativen Chimären jener willkürlichen Dinge "in uns allen" erinnert, wie sie gern allwöchentlich im "Wort zum Sonntag" beschwört werden. Denn natürlich mag die Frage plausibel klingen, die sich laut Steffens nach dem vergangenen nun für das neue Jahrhundert stellt: "Welche Menschen wollen wir in Zukunft sein, nachdem wir in unvordenklichen Weisen erfahren haben, welche zu sein wir nicht wollen können?" (Oder auch, mit Adorno, "was er [der Mensch] nicht sein soll und welche Gestaltung der menschlichen Dinge falsch ist, das wissen wir...") Aber, einmal unabhängig von der für Nachgeborene bezweifelbaren Möglichkeit, dies wirklich "erfahren zu haben", ist denn die hier angesprochene Problematik wirklich als eine - wenn auch negativ gewendete - Frage nach dem Menschen zu beschreiben, geschweige denn zu lösen? Steffens bemüht sich mit großem Pathos, einem relativ simplen und nie ausgesprochenen, aber nach wie vor auf der Hand liegenden Einwand gegen jegliche Form von philosophischer Anthropologisierung der Geschichte zu entkräften: die Nachfrage nämlich, was die geschichtlich (und nicht nur im 20. Jahrhundert) millionenfach belegte Tatsache, dass unter bestimmten Umständen Menschen grausam zu anderen Menschen sind, je anderes bedeuten kann, als dass erstens wir eben nicht so handeln sollen und uns zweitens die Erfüllung dieses Ge- und Verbots unter anderem auch dadurch leichter machen können, dass wir nicht zulassen, dass sich gleiche (oder besser: ähnliche) Umstände wiederholen. Hat das nicht viel mehr mit Moral, Politik, Geschichte, Soziologie und Psychologie zu tun als mit Anthropologie und Philosophie? Die Philosophen tun sich viel darauf zu gute, gerade die besagten "bestimmten Umstände" zugunsten von Allgemeinaussagen und Epochen-Resümees großzügig zu übergehen: was dadurch aber gewonnen sein soll außer philosophischem Aplomb und literarisch-ästhetischem Raunen, bleibt fraglich.

So leidet diese "philosophische Jahrhundertbilanz" des Kasseler Privatdozenten, die ansonsten mit interessanten Teilan- und -einsichten (und v. a. mit einer Fülle an Zitaten, die manchem philosophisch ergiebigen Nicht-Philosophen Reverenz erweisen) aufwartet, an einer forcierten Einheitsperspektive, die allzu Vieles und zu Verschiedenes über den anthropologischen Kamm schert. Aus Georg Simmels Begriff der "Tragödie der Kultur" und Martin Heideggers "Seinsgeschichte" und der Frage seiner NS-Verstrickung (ausführlichere Textabschnitte finden sich sonst nur noch über Adorno und Blumenberg) anthropologische Inhalte herauszudestillieren und damit zumindest die erklärten Anthropologie-"Feinde" Heidegger und Adorno gegen den Strich ihrer Selbstinterpretationen zu bürsten, mag zwar im Sinne einer philosophiehistorischen Aufarbeitung einer Latenz-Anthropologie des 20. Jahrhunderts verdienstvoll sein; allerdings scheint mit dem Nachweis solch unterirdischer Zu(sammen)gehörigkeiten hinsichtlich jener "wichtigsten Aufgabe der Philosophie", ein "Tiefenwissen vom Menschsein herzustellen und es zu einem Bewußtsein auszuprägen", solange nicht viel erreicht, als jede präzisere Definition der heutigen Aufgaben von Anthropologie vermieden wird und so die Konturierung des hermeneutischen Gewinns aus der Relektüre all dieser Anthropologen malgré eux unscharf bleibt. Die Zwiespältigkeit des Ansatzes erhellt denn auch daraus, dass trotz des Bekenntnisses zu Plessners "Unergründlichkeit" des Menschlichen und Sonnemanns "negativer Anthropologie" der Autor sich zwischendurch doch immer wieder einige fragwürdige positiv-normative Bestimmungen "des Menschen" durchgehen lässt: so wenn eine emphatische Geschichtserfahrung "in Durchdringung von Selbstempfinden und Zeitgenossenschaft" angemahnt wird, so dass die "Distanz zwischen einem Geschehen und dem eigenen Selbst verschwindet" (als ob wir in diesem Jahrhundert nicht schon zu viele solcher glorreicher Momente geschichtsbesessener Aufbruchsstimmung gehabt hätten) oder wenn Steffens meint, dass man sich die Verwirklichung eines Menschheitsverbrechens nur genau genug vorstellen können müsste, um es zu verhindern: bei einer genügend ausgebildeten "Einbildungskraft" "gäbe es keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von denen ein jedes seinen Täter überfordert, selbst wenn seine Verübung ihm subjektiv Lust bereitet" (als ob nicht all die coolen, im Ganzen eher unterforderten Lager-Chefs und Menschenschlächter aller Länder oft genug demonstriert hätten, dass sie genau das wollten und - gerade auch gegen ihre "subjektive Lust" - zu tun müssen glaubten, was getan wurde).

So wenig überzeugend wie dieser kontrafaktische Gutmenschen-Glauben wirkt Steffens' Versuch, der nationalsozialistischen "Anthropolitik" anthropologisch beizukommen, denn auch er - wie so manch anderer philosophischer Interpret des Nationalsozialismus - scheint dessen spezifisch nationale Dimension kaum wahrzunehmen: wenn das Charakteristikum des NS darin bestehen soll, die Menschen nicht zu "befreien", damit sie "werden können, was sie ihrem Wesen nach sind", sondern sie "dazu zu zwingen, zu werden, was sie sein sollen", unterschlägt diese Deutung, daß es den NS-Ideologen ja nie um den Menschen, sondern immer nur um "die Deutschen" ging, um die Bewahrung und Verteidigung einer ganz besonderen und angeblich besonders gefährdeten Form "mitteleuropäischen Menschseins". Die braunen Globalisierungsgegner avant lettre fühlten keinerlei Begründungsdruck für ihren antihumanistischen Partikularismus, eben weil sie nie die universalistische Sorge um den ("Neuen") Menschen umtrieb; wenn man den NS, wie Steffens das hier versucht, auf seine Kernideologie reduziert, dann wird man sich der defensiven Mission des "deutschen Volks" gegenüberfinden, das prinzipiell alle Völker der Erde quasi-pluralistisch nach ihrer façon selig werden lassen kann, wenn nur gewährleistet ist, dass der "arischen Rasse" der ihr gebührende "Lebensraum" erhalten bleibt.

Etwas realitätsfern und wenig "lebenstauglich" klingen folglich auch die politisch-praktischen Ratschläge, die Steffens anzubieten hat; die aus dem NS zu ziehende Lehre bestehe in der "Erkenntnis der ausschließlich menschlichen Selbstverantwortung für das Menschsein", für das die wichtigste Bedingung die sei, "ein Mensch sein und bleiben zu wollen": das erinnert zwangsläufig an die bekannte gemütvolle Ruhrpott-Redewendung und geht in seinem Potential an Einsicht wohl nicht sehr weit darüber hinaus. Dass Steffens dann in dem kurzen Abschnitt "Wiederkehr der Züchtung?", wo es nun tatsächlich um das heutige Menschenbild und um eine normative Anthropologie ginge, auf die heutige "niedrige Politisierung" als "Schutz gegen die schlummernden Möglichkeiten der Biotechnologie" vertraut, passt ins blauäugige Bild.

Daß sich gewisse Bodenlosigkeiten auftun, wenn man auch auf der Ebene einiger Anmerkungen etwas tiefer bohrt, werden zumindest philosophische Insider sofort bestätigen: wie aus Kants Anmerkung zu § 2 der Anthropologie hervorgehen soll, dass Menschenwürde nur aus "gegenseitiger Anerkennung" entsteht und wie man Schnädelbach vorwerfen kann die Anthropologie auf eine rationalistisch verengte "Philosophie der Vernunft" zu reduzieren (wenn dieser sich in dem als Beleg zitierten Aufsatz ausdrücklich auf die anthropologischen Befunde Plessner beruft, an denen Steffens selbst sich orientiert), weiß wohl nur der Autor selbst.

Es bleibt trotzdem zu konstatieren, dass Steffens einige ausgewählte Ausschnitte (nicht umsonst fällt der Begriff der "anthropologischen Reduktion") der Philosophie- und Politikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts in einen stellenweise recht originellen Blick bekommt, und solange man nicht seinen engen Blickwinkel für "das Ganze" nimmt, kann man dem Buch einiges abgewinnen. Nichtsdestoweniger liegt über allem der störende hautgout von apokalyptischem Krisenpathos und menschheitsrettender Aufgeregtheit; ein bisschen mehr Distanz, Sachlichkeit und Realitätssinn hätten dem Text gut getan (es ist wohl kein Zufall, dass die weniger pathos-genen philosophischen Strömungen wie Positivismus, Pragmatismus und analytische Philosophie in Steffens "Jahrhundertbilanz" keinerlei Rolle spielen), auch wenn dem Leser dadurch vielleicht so ahnungsvolle Zeilen wie die folgenden entgangen wären, die sich im Nachhinein fast wie eine überaus hellsichtige Prophezeiung des 11. September 2001 lesen: "Die Realisten der totalen Ökonomie werden von fundamentalistischen Ausbrüchen so überrascht werden wie alle, die das Offenbare nicht sehen können, weil ihnen die Phantasie fehlt, sich ihre Wirklichkeiten vorzustellen". Gelingt die Ehrenrettung der geschichtsphilosophischen Rückschau vielleicht durch ihre Prognosefähigkeit?

Titelbild

Andreas Steffens: Philosophie des 20. Jahrhunderts. oder Die Wiederkehr des Menschen.
Reclam Verlag, Leipzig 1999.
270 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3379016632

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch