Tanzen am Abgrund

Über Tanja Dückers' Erzählband "Café Brazil"

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein hochformatiges, schlankes Buch. Schokoladenfarben. Der Umschlag: Mattes, kräftig-sanftes Papier. Eine kleine Struktur, die die Hand zum Darüber-Streichen verleitet. Der Titel, in ruhigen weißen Lettern: "Café Brazil". Darin achtzehn Erzählungen von Tanja Dückers. Die junge Schriftstellerin, 1968 geboren, wird derzeit interessiert beäugt als Aufsteigerin aus dem literarischen Untergrund vom Prenzlauer Berg. Ihr Debüt "Spielzone" wurde 1999 als ,Neuer Berlin-Roman' vielfach gelobt. Tanja Dückers ist Mitglied der Autorenvereinigung "Forum der 13" und gefragte Befragte zum Phänomen ,Szene und Underground': Als Gastautorin schrieb sie dazu unter anderem für Die Welt und den Spiegel.

Auf achtzehn verschiedene Protagonisten und Wahrnehmungen trifft der Leser in Dückers' Erzählband. Oder besser: Auf Sinnlichkeit und die ihr Verfallenen. Immer wieder nämlich ist es die Kraft der Triebe (wie im richtigen Leben: oft genug die erotisch motivierte), die den Lauf der Geschichten vorantreibt. Breit gefächert sind die Konsequenzen dieser obsessiven, mitunter fehlgeleiteten Sinnlichkeit. Meistens bleibt die Katastrophe aus, schleichen sich die Beteiligten mit einem blauen Auge davon. Nicht immer allerdings.

Zum Beispiel Nessie: Immer wieder wird sie von ihrer "Sekundenliebe" überfallen. Neunundneunzig Mal in 27 Jahren, um genau zu sein: "Ein inniges Gefühl der Zuneigung, ohne das ich gar nicht mit jemandem schlafen kann, das nur aus dem Moment heraus erwächst, und wenn ich wieder alleine bin, nicht mehr ist als eine kalte Rauchfahne unbewegt in der Luft, an einem Himmel der eben noch von Feuer durchleuchtet wurde." Peter, ihr fester Partner seit vier Jahren, ist die Nummer 81 auf ihrer Liste. Ein Kellner wird im Abstellraum des "Café Brazil" die goldene Nummer Hundert, währenddessen Peter an der Bar das 2:0 im Fußballspiel Brasilien gegen Dänemark bejubelt.

Dann aber läuft in der vier Seiten kurzen Geschichte "Der Nacken" ein Junge schwitzend durchs hohe Gras. "Irgend etwas piekt in seiner Hosentasche. Er holt ein kleines Plastikflugzeug heraus. Sanft fährt er mit den winzigen Gummireifen über seine Backe. Das ist so ein angenehmes Gefühl." Der Junge hat kurz zuvor den Nachbarsbub Sven getötet. Mit einem einfachen Messerstich in den Nacken, so wie es ihm der Vater am Schwein gezeigt hat. An dem Ferkel, das der Junge Theo genannt und dem er Kunststücke beigebracht hatte.

Die Kurzgeschichten in "Café Brazil" offerieren zunächst scheinbar vertraute Wirklichkeitsausschnitte. Doch sind es gerade die Grenzen des Gesellschaftskonformen, die sorgsam freigelegt und behutsam bearbeitet werden: Geht es noch eine halbe Drehung weiter? Immer wieder bewegen sich die Figuren einen Hauch zu weit - ein Stückchen über das ,gesunde Maß' hinaus. Identitäten werden in der Ich-Perspektive ausgebreitet und dann überraschend gebrochen. Knappe, vertraut wirkende Szenen entwickeln sich in lakonischer Sprache, und plötzlich tun sich bestürzende Schluchten auf.

Die Figuren sind so verschieden wie ihre Lebensräume: Ein kleiner Junge, ein alter Mann, eine junge Frau - in Los Angeles, im Gefängnis, in einer Stadt in naher Zukunft. Etwas haben sie jedoch gemein: ihren Ausnahmezustand. Sie schlingern um ihren seelisch-körperlichen Abgrund. Balance oder Sturz? Meist liegt es nicht in ihrer Hand. Das Leben steckt voller Überraschungen.

Titelbild

Tanja Dückers: Café Brazil. Erzählungen.
Aufbau Verlag, Berlin 2001.
204 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3351029136

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