Neigung zur Selbstzerstörung

Franz Hillebrandts Satyricon "Jagdsaison"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Madagaskar versteht sich als Künstler. Noch vor kurzem hat er seine Drehorgel, Suleyman III. auf seiner Schulter, durch die Straßen von Brast in Ostwestfalen geschoben. Doch das Äffchen starb und der Leierkasten wurde ihm von Bruno Schlegel, einem windigen und zugleich erfolgreichen Unternehmer mutwillig zerstört.

Madagaskar ist ein Künstler von trauriger Gestalt - ein Taugenichts, ein Trinker. Sein Gebiss erinnert an einen aufgelassenen jüdischen Friedhof: Kreuz und quer liegen die paar Zähne, die er noch hat, in seiner Mundhöhle, und wenn er spricht, schwimmen sie im Speichel.

Die Merkmale, mit denen Franz Hillebrandt seine Figur ausgestattet hat, deuten auf eine tragische Lebensgeschichte; darauf, dass Madagaskar als Kind das Konzentrationslager überlebt hat, indem er sein Bewusstsein abschaltete: "Schwer zu erklären, aber so muss es sein. Es läuft auf Sparflamme. Ein Kleinkind, welches sich die Augen zuhält und sich dann einbildet, man könne es nun auch nicht mehr erblicken. Bei mir ist's letztlich genauso lächerlich, aber es funktioniert. Das kommt daher, weil, zwischen neunzehnhundertdreiundvierzig und fünfundvierzig, da war ich sozusagen tot. Über zwei Jahre lang konnte ich damals von einer Sekunde auf die andere zum Tode verurteilt sein. Vielleicht habe ich nur Glück gehabt, was ich nicht so recht glauben kann, eher war es wohl so, dass ich mich in dieser Zeit tot fühlte und deshalb als Lebender nicht so richtig registriert wurde."

Nach dem Krieg hat sich Madagaskar ein Leben am Rande der Gesellschaft eingerichtet. Als Künstler fristete er sein dürftiges Dasein dadurch, dass er von Haustür zu Haustür oder von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zog und niemandem beschwerlich fiel. Doch jetzt ist seine Existenzgrundlage zerstört - und dafür soll Bruno Schlegel büßen.

Die Eigenschaft, sich unsichtbar zu machen, kommt auch der Erzählinstanz in Franz Hillebrandts Roman "Jagdsaison" zugute. Wie unter einer Tarnkappe sitzt sie mit dabei, wenn im Revier gewildert wird, wenn sich die 19-jährige Nymphomanin Annelie von ihrem Freund Hardi beschälen lässt, wenn Robert Krugk sein Jagdgewehr auf Hardi anlegt, um sich dann an Annelie zu vergehen. Wenn Annelie einen günstigen Moment zur Flucht ergreift und ihrem Mörder in die Fänge läuft.

Der niemals sichtbare Erzähler weiß auch, was die Figuren, die er auf seinem Tableau hin- und herschiebt, in ihrem Leben erlebt haben und was sie denken und fühlen. Und was anfangs vielleicht als wildes, unübersichtliches Ensemble heterogener Figuren und Ereignisse erschien, verdichtet sich immer mehr zu einem Netz notwendiger Beziehungen. Wahnwitzige Verhaltensweisen erscheinen plötzlich als motiviert und plausibel - als könne die Welt nur so sein, wie sie ist, und als müsse das Leben an Wahrscheinlichkeit verlieren und an Zwanghaftigkeit zunehmen.

Carl von Linné rechnet die Erotomanie zu den pathetischen Geisteskrankheiten. Franz Hillebrandt hat seinen Roman als Satyricon inszeniert, in dem amouröse Exzesse und erotische Verstrickungen aller Art die Basis der dargestellten Welt bilden. Frevel und Pathos unterlegen das deftige, vulgäre, hochtourig erzählte, unsere Gesellschaft überzeichnende Sittenbild. Viele der hier aufgebotenen Verhältnisse sind Dreiecksverhältnisse, die sozial und topografisch mehrfach gespiegelt werden. Während sich das Sozialsystem aufzulösen scheint, offenbart sich ein Beziehungsgeflecht, das auf Berechnung, dem Versorgungsaspekt, und Triebbefriedigung, dem Vermehrungsaspekt, wesentlich beruht.

Der Autor hat seine Geschichte erzählerisch hochtourig, ja grell angelegt, und damit womöglich genau das falsche Register gezogen. Denn er wagt es zu selten, dem Leser auch einmal eine Verschnaufpause zu gönnen und seine Narration in ruhigere Fahrwasser zu lenken. Denn ein Erstling von beachtlichen 300 Seiten darf sich auch einmal zurücknehmen im sprachlichen Gestus, muss nicht mit jeder Wendung um Originalität bemüht sein - und muss sich vor allem nicht ständig erklären. Die insgesamt überzeugende Psychologie der Figuren wird dem Leser haarklein auseinander gelegt, als sei er selber ein wenig debil wie zum Beispiel der Psychiatriepatient Edgar Weberknecht, der von seinen berufstätigen Eltern schon als Kind pharmazeutisch ruhiggestellt wurde: "Bei seiner Einschulung freilich wurde die grobe und mangelhafte Motorik beanstandet, und es stellten sich erhebliche Mängel in seiner Ausdrucksweise heraus, denn er hatte die deutsche Sprache weitgehend von seinem Kindermädchen erlernt, welches diese in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit nur unzureichend beherrschte."

Sätze wie dieser dokumentieren, wie verquer und unbeholfen sich auch Franz Hillebrandt bisweilen ausdrückt. Dabei gehört die Weberknecht-Handlung zweifellos zu den erzählerischen Glanzstücken seines Romans. Denn eines Tages kann sich Edgar aus dem Asyl für Geistesgestörte befreien. Plötzlich bricht er auf, um eine Tat zu vollenden, an deren Ausführung er vor Jahren gehindert wurde. Weberknecht ist von weißer, teigiger Gestalt, und mit seinen gänseeigroßen Hoden und seiner animalischen Triebhaftigkeit ruft er nicht nur Angst hervor, sondern auch Lust. So bei Dora Schlegel, der Frau des Mörders und Wilderers Bruno Schlegel: Einige Stunden in der Gewalt des entsprungenen Irren genügen, sie völlig in die Degeneration zu treiben.

Franz Hillebrandt entwirft in seinem Roman eine amoralische und rücksichtslose Gesellschaft. Die Figuren eint ihre Neigung zur Selbstzerstörung und zur "geistigen Verwahrlosung". Sie legen unappetitliche Verhaltensweisen an den Tag, und die Männer erwerben das Jagdrecht, um ihrer Wut auf alles Lebendige ungehemmt frönen zu können. Die Verwilderung des sozialen Raumes wird auch topographisch spürbar. Die Psychiatrie beispielsweise liegt am Waldrand und verfällt immer mehr: Der Wald, heißt es, sei nicht mehr auf Distanz zu halten. Die Protagonisten des Romans, dies wird immer klarer deutlich, führen ein Leben bewusst ohne Zukunft.

Es gibt wunderbare Beobachtungen, tragikomische Mikrogeschichten, brillant ausformulierte Perlen in diesem Buch, die man sich nicht entgehen lassen darf. Anderes hat untrüglichen Witz: "Auf der Fensterbank verwesten die Überreste einer zur Hälfte verspeisten Currywurst, die über einen Stehimbiss in die Nahrungskette gelangt war." Doch daneben findet sich allerlei Papierenes und Strohiges. Eine runde, makellose Geschichte ist "Jagdsaison" nicht geworden, und dem Romancier Franz Hillebrandt ist mehr Gelassenheit zu wünschen.

Titelbild

Franz Hillebrandt: Jagdsaison. Roman.
Elfenbein Verlag, Heidelberg 2001.
306 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3932245466

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