Weibliche Offerten

John Irving erzählt von Patrick Wallingfords linker Hand

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Stellen Sie sich einen Mann auf dem Weg zu einem knapp dreißigsekündigen Ereignis vor - dem Verlust seiner linken Hand, noch in jungen Jahren.". So beginnt John Irvings zehnter Roman, der in gewohnt Irvingscher Manier so weitgefächerte Themenbereiche wie Sex, persönliche Verluste, Amputationen und Obsessionen auf eigene Weise abdeckt und verbindet.

Patrick Wallingford driftet wenig zielgerichtet durch sein Leben, nimmt mit, was er kriegen kann an Frauen und Aufträgen des Nachrichtenkanals, für den er arbeitet, und lässt das Leben einfach über sich ergehen. Bis zu dem Tag, an dem ein Löwe ihm die linke Hand abreißt, während Wallingford live aus einem indischen Zirkus berichtet. Ganz Amerika sieht dem Unfall zu, der ihn fortan zum Medienstar macht.

Mit dem Verlust der Hand ist Wallingfords vergleichsweise ruhiges Leben vorbei und er findet sich alsbald im Mittelpunkt höchst seltsamer Begebenheiten wieder: Eine junge Witwe bietet ihm die Hand ihres gerade verstorbenen Mannes zur Transplantation an. Frau Clausens Offerte entpuppt sich allerdings als wenig selbstlos, verlangt sie als Gegenleistung doch Besuchsrechte - und Sex, um ihren unerfüllten Kinderwunsch zu stillen und mit einem Kind die Erinnerung an ihren Mann zu bewahren.

Der Plot des Romans ist, im Vergleich zu vorherigen Irving-Romanen, relativ simpel, auch wenn Irving die gewohnte Vielfalt an Charakteren und Handlungssträngen beibehält. "Die vierte Hand" ist im wesentlichen die Geschichte eines Mannes auf der Suche nach seinem Platz im Leben, die Geschichte eines Kampfes um seine große Liebe. Während Wallingford in seinem zweihändigen Leben Frauen vornehmlich als Sexobjekte betrachtete, gewinnt Frau Clausen seine Liebe, indem sie sich bereits bei ihrer ersten Begegnung als Objekt männlicher Begierde verhält und ohne große Umschweife Hose und Slip abstreift. Wallingford ist sofort fasziniert von der Tatsache, dass sie ihren Oberkörper als letztes entblößt. Ungefragt wirft sie sich auf ihn.

Wallingford fiebert von diesem Moment an jeder weiteren Begegnung mit Frau Clausen entgegen und ist zutiefst entsetzt, als sein Körper die transplantierte Hand keine zwei Jahre später abstößt - was Frau Clausens Besuchsrechte hinfällig werden lässt. Wallingford beginnt zum ersten Mal in seinem Leben um etwas zu kämpfen.

John Irving glaubt man alles, auch die gewohnten Verstrickungen und kleinen Absurditäten des Lebens, die er so gern in seine Romane einbaut, die parallelen Handlungsstränge, die den Motor des Romans schmieren, wie die Geschichte von Dr. Zajac, der die Transplantation der Hand durchführt und der im Verlauf des Romans vom publicity-geilen, ordnungsbesessenen Prominentenchirurg zum liebenden Familienvater wird.

Im Gedächtnis bleiben dem Leser auch Wallingfords Frauenbekanntschaften, die er trotz seiner unerfüllten Liebe zu Doris Clausen zwar nicht sucht, aber dennoch findet, und die ihm wiederholt bewusst machen, dass er, um Doris Clausens Liebe zu gewinnen, vor allem seinen Platz im Leben finden muss. So wird aus dem Boulevard-Journalisten, der jahrelang für einen auf Katastrophen spezialisierten Nachrichtenkanal arbeitete, ein zwar wesentlich schlechter bezahlter, aber dafür viel seriöser Journalist, womit Irving die Merkmale und Mechanismen der amerikanischen Medienlandschaft thematisiert.

Die amerikanische Gesellschaft als solches bleibt John Irvings großes Thema; seine Charaktere sind jeder auf seine Weise körperlich oder seelisch beschädigt, und es sind die bizarren Zufälle des Lebens, gepaart mit viel Humor und Sinn fürs Absurde, die sie schließlich auf den richtigen Weg bringen. John Irving lässt seinen Figuren dabei eine Liebe und Sorgfalt angedeihen, die

ihresgleichen sucht und die ihn nicht zuletzt deshalb so lesenswert machen.

Titelbild

John Irving: Die vierte Hand. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2002.
439 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3257063032

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