Barocker Naturalismus

Josef Winklers römische Novelle "Natura Morta”

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rom, wie es wenige kennen, porträtiert Josef Winklers römische Novelle "Natura Morta". Das Werk ist eigentlich eine Fortsetzung oder eine Koda von Winklers ebenso monumentalem wie groteskem Roman "Friedhof der bitteren Orangen". Trotzdem markiert "Natura Morta" einen Bruch im Werk des Kärtners, denn hier kommt er erstmals ohne direkte Opposition gegen die repressiven Traditionen seiner ländlichen Heimat aus, die von vielen Kritikern als treibende Kraft seines Schaffens angesehen wurde. War "Friedhof der bitteren Orangen" noch von häufigem Wechsel der Schauplätze, von der permanenten Rückkehr des Erzählers aus Rom oder Süditalien in die Enge des heimischen Dorfes geprägt, so braucht Winkler diese Rückversicherung diesmal nicht. Der Dichter vom Land ist endgültig in der Stadt angekommen und beweist seinen Kritikern aufs Schönste, daß er nicht auf kritische Heimatliteratur festzulegen ist, sondern genauso eindringliche und intensive Stadttexte schreiben kann. So ist es auch kaum verwunderlich, daß "Natura Morta" bereits mit zwei Literaturpreisen bedacht worden ist.

"Natura Morta" ist insgesamt weit weniger komplex als der Roman "Friedhof der bitteren Orangen", der Reisetagebuch, Stadtbeschreibung, österreichisches Gebetbuch, die Mumien der Palermitaner Kapuzinergruft, Zeitungsnotizen, italienische Lyrik und einige andere Ingredienzien zu einem hochliterarischen Text vermischte, in dem der Erzähler alltäglichem Schrecken und historischen Greueltaten nachjagt. Die disparaten Elemente werden durch die Kritik an der repressiven und menschenverachtenden Natur des Katholizismus zusammengehalten, dem Winkler den gezielten literarischen Tabubruch entgegensetzt. Dies brachte "Friedhof der bitteren Orangen" viel Kritik ein, religiöse Kreise störten sich an der gelegentlich ins blasphemische gehenden Religionskritik, manche literarische Kritiker nahmen dagegen Anstoß an der expliziten Darstellungen homosexueller Praktiken.

"Friedhof der bitteren Orangen" beschreibt die Schattenseiten Roms, das Tote, das Groteske und Vulgäre. Manchmal gleiten seine Schilderungen in phantastische, von Edgar Allen Poe inspirierte urbane Alpträume ab, meist sind sie aber von geradezu atemberaubendem Realismus und erzählerischer Präzision geprägt. Der Roman hält sich von Pomp und Pracht des historischen Zentrums der Stadt Rom weitgehend fern, sein Erzähler verkehrt vor allem in den Quartieren der Unterschicht, die er mit weniger an Fellini als an Pasolini geschultem Blick beschreibt. Zu seinen bevorzugten Schauplätzen zählt das Viertel Esquilin, dessen herausragendstes Bauwerk der Bahnhof Stazione Termini ist. Hier leben die Armen, die Huren, die Junkies, die Stricher, die Farbigen und die Zigeuner, die sich im Umfeld der Piazza Vittorio Emmanuele treffen, auf der der tägliche Hauptmarkt Roms stattfindet. Zwischen den Marktständen begegnen wir dem Erzähler von "Friedhof der bitteren Orangen", wie er mit dem Notizbuch in der Hand das blutige Treiben der Fleischhauer und Fischhändler beobachtet und offenbar Material für die Novelle "Natura Morta" sammelt. Um in der Bildsprache Winklers zu bleiben, ist "Natura Morta", wie der Name bereits sagt, eine Art Stilleben, kleinformatig und beschränkt in der Themenwahl, während "Friedhof der bitteren Orangen" ein barockes Großgemälde darstellt, das mit mehreren Handlungsebenen und seiner Doppelbödigkeit prunkt.

In "Natura Morta" beschränkt sich Winkler im wesentlichen auf das Marktgeschehen auf der Piazza Vittorio Emmanuele. Obwohl es im Unterschied zu "Friedhof der bitteren Orangen" eine Art Plot gibt, spielt der Markt die eigentliche Hauptrolle. Winkler kommt zwar mehrfach auf das Stilleben zurück, aber die Novelle ist nicht still oder statisch, sondern extrem unruhig und bewegt, wie es sich für ein Werk gehört, das auf einem römischen Markt angesiedelt ist. Da wird geschrien, gefeilscht und gebettelt, da herrscht Gewimmel, Geschiebe und Gedrängel. Auf der Piazza Vittorio Emmanuele prallen unterschiedliche Lebenswelten Roms aufeinander, elegant gekleidete Bürgerinnen, Nonnen, Junkies und Farbige, dazwischen versprengte Touristen, sie alle geben sich auf dem Markt ein Stelldichein. Die Anteilnahme des eher distanzierten Erzählers gehört allerdings eher denen, die wie die Zigeuner oder einige Farbige einfach irgend etwas verkaufen, damit sie sich zumindest die leicht angegammelte Ausschussware der Marktleute leisten können und nicht wie Hunde in den Abfällen wühlen müssen. Das Bild, das dabei entsteht, hat wenig mit den Sehnsuchtsvisionen nordeuropäischer Touristen zu tun, denen ein italienischer Markt oft als dolce vita unter blauem Himmel, als Symbol unentfremdeten Einkaufes und intakter Urbanität vorschwebt. In "Natura Morta" erscheint der Markt als Inbegriff einer lauten, schrägen und kaputten Stadt.

Das liegt auch daran, daß Winkler mit Natura Morta noch etwas anderes meint, nämlich die tote Natur, die auf dem Fisch- und Fleischmarkt ausgestellt wird und deutlich mit der schrillen Lebendigkeit der Marktbetreiber und -besucher kontrastiert. In seinen Beschreibungen der Handelsobjekte schwelgt Winkler geradezu in Gedärmen, Knochen und totem Fleisch. Ganz genau wird die Arbeit der Marktleute an den Kadavern geschildert, ebenso wie die für Nordländer etwas befremdlich anmutende italienische Angewohnheit, halbierte Schafsköpfe, ausgeweidete Hasen und Hühner mit Kopf und Kamm möglichst dekorativ auszustellen und zu drapieren. Wie schon "Friedhof der bitteren Orangen" ist auch Natura Morta nichts für Leser mit schwachem Magen und niedriger Ekelschwelle. Die Geschichte, die Winkler in "Natura Morte" erzählt, ist untrennbar mit dem Markt und seinen alltäglichen Dramen verbunden. Piccoletto, der Protagonist der Novelle arbeitet wochentags auf dem Markt für den Fischhändler Frocio und verkauft sonntags Feigen auf dem Platz vorm Vatikan. Wenn nicht gerade das Marktgeschehen im Mittelpunkt steht, schweift der Blick des Erzählers dem schönen Jungen nach, was ihm auch Gelegenheit gibt, den Fokus der Novelle für ein sonntägliches Kapitel von der Piazza Vittorio Emmanuele auf den Platz vorm Vatikan zu verlagern, auf dem es, zumindest aus der Perspektive des Erzählers, gar nicht viel anders als auf dem Marktplatz zugeht. An beiden Orten herrscht nicht nur eine rege Geschäftigkeit, sondern auch eine ziemlich vulgäre und profane Atmosphäre. Piccoletto interessiert sich weniger für die grandiose Kulisse oder seine Feigen, als für eine leicht gekleidete blonde Touristin, die sein Verlangen weckt.

Im vierten Kapitel bricht in die Beschreibung des wuseligen und alltäglichen Marktlebens eine Tragödie ein. Piccoletto wird beim Pizza holen von einem Feuerwehrauto überfahren und stirbt. Frocio, der in seinen hübschen Angestellten verliebt war, nimmt den Körper des toten Jungen in den Arm und läuft mit ihm laut klagend über den Marktplatz. Dies ist zweifellos der Höhepunkt der Novelle, in der Winklers Prosa in ungewöhnlicher Intensität beschreibt, wie das Marktgeschehen für einen Moment der Ergriffenheit zur Ruhe kommt, um sich dann begleitet von den Ritualen des Todes und der Trauer in erneute Geschäftigkeit zu stürzen. Die Novelle endet mit einem Blick auf die Beerdigung Picccolettos und auf Frocio, den der Tod des Jungen fast um den Verstand gebracht hat.

Winklers Novelle ist von eigentümlicher Schönheit, obwohl seine Gegenstände teilweise eklig sind und seine Story ausgesprochen unspektakulär ist. Es ist die poetische Eindringlichkeit von Winklers Sprache, die sowohl den Markt als auch Piccoletto zum Leuchten bringt. Seine Beschreibungen sind von barocker Opulenz, aber auch von einer Exaktheit und Genauigkeit, die beinah naturalistisch anmutet. Obschon "Natura Morta" und "Friedhof der bitteren Orangen" der traditionellen Romliteratur den Rücken kehren und ein wenig schmeichelhaftes Bild der Ewigen Stadt zeichnen, gehören beide Werke zum Bestem, das seit langem über Rom geschrieben wurde. Dabei ist Winklers Darstellung keineswegs voraussetzungslos, ganz im Gegenteil, in "Friedhof der bitteren Orangen" findet sich so manche Anspielung auf die Tradition der unidealisierten Italienwahrnehmung. In "Natura Morta" wird jedes Kapitel durch einen Vers des italienischen Dichters Ungaretti eingeleitet, der wie Winkler ein Meister einer intensiven Bildersprache ist. In "Natura Morta" verwendet Winkler die Ungaretti-Übersetzungen von Ingeborg Bachmann, deren Idee von der Poesie des römischen Alltagslebens durchaus Parallelen zu Winklers Romauffassung erkennen läßt.

Titelbild

Josef Winkler: Friedhof der bitteren Orangen. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1990.
424 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3518402927

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Titelbild

Josef Winkler: Natura morta. Eine römische Novelle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
102 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3518412698

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