Löchriges Gewebe, Ornamente und Paläste

Sigrid Lange versammelt Heterogenes über Raumkonstruktionen in der Moderne.

Von Michael LieglRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Liegl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der "Raum" spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Er ist prägend für Kunst und Literatur etwa in Baudelaires Flaneurromanen, den Raum- und Denkbildern Benjamins, den Städteportraits Kracauers oder den bizarren Labyrinthen in Kafkas Prosa. Auf dem Felde systematischer wissenschaftlicher Bearbeitung kam es allerdings nur in seltenen Fällen, wie in Worringers wahrnehmungspsychologischer Studie "Abstraktion und Einfühlung", in Simmels "Soziologie des Raumes" oder natürlich in Einsteins Relativitätsphysik zu expliziten Formulierungen.

Seit etwa 20 Jahren gibt es nun wieder eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Raum. Die frühen Zeugnisse regen zu einer Systematisierung an, sind Stichwortgeber aber auch Gegenstand von Analyse und Theoretisierung. Die theoretischen Impulse wurden weiterentwickelt und die kulturell gestalterischen Werke unter dem Aspekt ihrer Raumthematisierung analysiert.

Eckpfeiler der aktuellen Beschäftigung mit Raum sind nach wie vor die schon genannten Klassiker selbst, vor allem aber die richtungsweisenden zeitgenössischen Arbeiten von Michel Foucault, Henri Lefèbvre und Doreen Massey. In den aktuellen Thematisierungen herrscht Einigkeit hinsichtlich der Diagnose, die Foucault in seinem Aufsatz "Andere Räume" Mitte der achtziger Jahre formuliert: "Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen[...]. Die aktuelle Epoche hingegen wäre vielleicht eher die Epoche des Raumes". Naheliegend wäre es, in modischer Manier diese Beschäftigung mit Raum nun als Paradigmenwechsel (Kuhn) oder als "Wende zum Raum" (Spatial turn) zu bezeichnen. Solcherlei programmatisches Pathos ersparen sich die Autoren in Sigrid Langes Band "Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur Literatur - Film", wenngleich sie genau dies tun: Aus einer Vielfalt kultureller Artefakte (Romane, Erzählungen, Filme, Theater) sowie sozialer Praxen nehmen sie den jeweils räumlichen Aspekt als zentralen und konstitutiven unter die Lupe. Eine Analyse "vom Raum her".

Und noch mehr: In den dreizehn Aufsätzen des Bandes ist trotz ihrer thematischen Vielfalt ein Unterstrom zu finden, der vielleicht eher eine gemeinsame Haltung als eine Theorie ausdrückt. Die vielfältigen Bezüge auf Foucault und dessen Begriff der "Heterotopie" liefern die Chiffre, die den Zusammenhalt stiftet. Für Foucault bildet das Besondere des Raumes das Nebeneinander, die Gleichzeitigkeit, die Dynamik. Heterotopie ist als Gegenbegriff zur Utopie gemeint einem Begriff, der eschatologischen Vorstellungen linearer Zeit verpflichtet ist. An die Stelle des Telos, der Verwirklichung von Utopien, deren Einlösung totalitäre Gefahren in sich birgt, gerät die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander von Ungleichem, Nichtidentischem.

Von der Raumdimension des Denkens und Erinnerns handelt Günther Butzers Untersuchung über die Veränderung von Mnemotechniken in der Moderne, d. h. bei Montaigne, Sterne und Baudelaire. Der Gedächtnisraum sei nicht mehr nach loci und topoi geordnet, ergebe also keine kohärente Landschaft mehr, die chronologisch durchschritten werden könnte. Erinnern wird zur losen Folge unverbundener Ereignisse, die bruchstückhaft bleiben und sich zu keiner Einheit mehr zusammenfügen.

Der Zusammenhang von Raum und Subjektkonstitution spielt in der Literatur der klassischen Moderne eine wichtige Rolle. Auch hier findet eine (durchaus normative) Auseinandersetzung statt, in der die geschlossen geordnete Identität des (männlichen) Subjekts und die es konstituierenden Raumelemente "Behausung", "Zuhause", "Heimat" Verunsicherungen ausgesetzt werden. Manuela Günter findet in der Poetologie Kafkas eine Auflösung räumlicher Ordnungen, die die Gewissheit identitärer Subjektivität untergräbt. Wohnung und Familie werden dem Gestaltwandler Gregor Samsa zum Verhängnis. Die Forderung, der Gleiche oder etwas Eindeutiges sein zu sollen, führen zu seinem Tod. Ähnliches passiert auch dem Subjekt in Kafkas Bau-Fragment, das in seinem besessenen Streben nach der perfekten - und das heißt sicheren und unveränderlichen - Behausung schließlich "in seinen eigenen paranoiden Mauern erstickt".

Raumzeitliche Praxen sind also immer auch Bestandteil von Subjektivierungsprozessen. Dies zeigt auch Annette Keck anhand der unterschiedlichen Bedeutung des Wartens in den Werken Feuchtwangers und Becketts. Das leere sinnlose Warten von Feuchtwangers Flüchtlingen im Exil wird als Prüfung verstanden, wie die Wanderjahre eines Handwerkers. Wer aushält, nicht aufgibt und sich bewährt, bildet eine verlässliche männliche Subjektivität aus und kann seinen Platz in der Gesellschaft mit Recht einnehmen. Bei Beckett hingegen gibt es keinen Sinn im Warten. Es ist leer, reine Immanenz, die Fremde bietet keine Überschreitung mehr, an der man wachsen, an der sich eine gefestigte Subjektivität herausbilden könnte. Was zunächst wie eine Kritik männlicher Subjektivität erscheinen mag, erschöpft sich bei Beckett allerdings in frauenverachtender Destruktivität. Ute Gerhard untersucht den Zusammenhang von narrativer Struktur und Subjektivitätsmodellen in Texten von Siegfried Kracauer, Anna Seghers und Fred Wanders. Alle dabei unter die Lupe genommenen Texte handeln von Transit-Räumen und Subjektivitätsmodellen. Und auch hier finden sich zwei widerstreitende Intentionen: Kracauer und Wanders begreifen den Transit als Lebensweise. Dem "löchrigen Gewebe" (Kracauer) des Lebens im Exil messen sie ein Moment der Widerständigkeit gegen starre Identitätsvorschriften und Zwang zur Eindeutigkeit bei. Seghers moniert dagegen, dass Zerstreuung und Nomadentum einzig zu einem Mangel an Zielstrebigkeit führe, der politische Kämpfe (hier den Kampf der sozialistischen Bewegung gegen den Faschismus) unmöglich mache. Gegenüber den Konzepten Kracauers und Wanders ziele Seghers auf eine Wiederverwurzelung und Ausbildung einer durch die Transiterfahrung sogar noch gestärkten Identität des Subjekts.

Innerhalb desselben theoretischen Feldes vergleicht Joachim Jacob Ideen zu "Ornament und Raum" bei Worringer, Jünger und Kracauer. Das Ornament in seiner Zweidimensionalität gilt Worringer als Inbegriff der Moderne. Es ist Symbol eines Weltverhältnisses, das die Tiefe scheut und sie in die Eindeutigkeit des Zweidimensionalen zu überführen trachtet. Ornamental betrachtet auch Jünger seine Gegenwart. Wo früher Krieger aus Fleisch und Blut sich in Schlachten bewährten, sind die Massenkriege des 20. Jahrhunderts in ihrer Anonymität zu kaum mehr differenzierter Flächigkeit geschrumpft. Eine ambivalente Haltung zum Ornament findet man dagegen bei Kracauer. Dem Lamento des Verschwindens des bürgerlichen Subjekts in der Masse stellt er eine positive Bewertung der Oberfläche an die Seite.

Um architektonische Phantasien (Utopien) von der "besten aller Welten" geht es in Carl Freytags Beitrag. Die Vorstellung, die moderne Architektur mit ihren neuen Baustoffen Glas und Stahl und ihrem Anspruch der Transparenz "baue" die neue Gesellschaft - ausformuliert (oder eher erträumt) in Romanen von Paul Scheerbart und Bruno Taut - konkurriert hier mit Kracauers Urteil, der in ihr keine die Gesellschaft revolutionierende Kraft sah, sondern sie allenfalls als Ausdrucksform sozialer Verhältnisse gelten ließ.

Ein eher praxeologisches Raumverständnis, in dem Raum nicht in erster Linie von seiner materialen Struktur determiniert, sondern erst durch die in ihm stattfindenden sozialen Praxen hervorgebracht wird, findet sich in Kaspar Maases Beitrag über die spontanen Massenversammlungen Jugendlicher zum Tausch von Schundliteratur in der wilhelminischen Kaiserzeit. Raum ist hier in erster Linie Produkt einer Inszenierung, soziales (also reales) Theater.

Die vermeintliche Opposition von dreidimensionalen Theaterräumen und dem zweidimensionalen Raum des Kinos sieht Sigrid Lange in ihrer Untersuchung zu Theaterverfilmungen in den zwanziger Jahren nicht bestätigt. So sei in dieser Zeit dem progressiven Film und Theater die Entwicklung eines neuen Raumkonzepts gemein gewesen, das gerade mit der "konservativen" Gegenüberstellung von Raum und Fläche Schluss macht.

Patriarchale Machtstruktur und Geschlechtsidentität ist wesentlich an die stabile Unterscheidung von öffentlichem und privatem Raum gebunden, lautet die zentrale These in Barbara K. Kostas Beitrag zu Joe Mays Film "Asphalt". Anhand des Genres "Straßenfilm", zurückgebunden an die Auseinandersetzungen um das reale und massenhafte Auftauchen berufstätiger Frauen im Straßenbild der Weimarer Republik untersucht sie die Repressionen, denen sich Frauen ausgesetzt sehen, wenn sie sich selbstbewusst männliche Freiheiten im öffentlichen Raum aneignen wollen.

Ebenfalls auf der Verräumlichung von Geschlechterverhältnissen liegt der Fokus in Ellen Risholms Untersuchung der Raumpraktiken in Murnaus Film "Nosferatu". Anhand einer Analyse der räumlichen Inszenierung der drei Protagonisten bezüglich der Kriterien Beleuchtung, Kadrierung und Bewegung im Raum, versucht Risholm eine Art räumliche Geschlechtertypologie aufzuzeigen.

Auch Kenneth S. Calhoun hat sich Murnaus "Nosferatu" angeschaut. Aus einer psychoanalytischen Perspektive parallelisiert er die Filmbilder mit den Seegemälden des romantischen Malers Caspar David Friedrich. Beiden gehe es um die Suggestion eines ins Unendliche ausgedehnten Raumes ohne Grenzen, der durch das Verschwinden von Grenzen eine bedrohliche Sogwirkung entfalte und dem Betrachter unheimlich sei.

Wahrnehmungspsychologisch motiviert ist Michael Barchets Aufsatz über den amerikanischen Kurzfilm "Interior New York Subway" von 1905. Die Kamerafahrt durch die U-Bahntunnel gilt ihm als Versuch, die zutiefst erschütternde neue (somatische) Form des Raumerlebens in den Massentransportmitteln, mit der unkontrollierten Beschleunigung, dem Unter- und Auftauchen an verschiedenen Orten, der raumfragmentierenden Wirkung narrativ zu bändigen und unter Kontrolle zu bringen.

Diese Schlaglichter mögen illustrieren, dass die Zusammenstellung der Aufsätze sich durch eine starke Heterogenität auszeichnet. Die Vielfalt der Beiträge stellt den Leser die Relevanz des Raumes als umstrittene Wahrnehmungs- und Handlungskategorie dar und demonstriert die Aktualität dieser Auseinandersetzung, wenngleich - je nach Erkenntnisinteresse des Lesers - nicht alle Beiträge gleichermaßen überzeugen.

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Sigrid Lange (Hg.): Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur - Literatur - Film.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2001.
348 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3895283010

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