Eine Bemächtigung

Christine Angots Aufzeichnungen "Die Stadt verlassen"

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weit weniger als ihr Kollege Houellebecq bedient Christine Angot den versteckten Voyeurismus der Leser. Dennoch haben viele die Schriftstellerin mit der Privatperson verwechselt und sie nach dem Erscheinen des Romans "Inzest" nicht mehr in Ruhe gelassen. Sie fühlte sich gezwungen, den Wohnort zu wechseln, von Montpellier nach Paris, in die relative Anonymität der Metropole.

Minutiös beschreibt Angot, was in der Öffentlichkeit passiert und was in ihr selbst vorgeht. Ihr Sprechen ist die Art und Weise, wie sie als Schriftstellerin handelt, die einzige ihr verbliebene Form des Handelns. Es ist der Rest Freiheit innerhalb der immer größer werdenden Enge, die die anderen ihr bereiten. Wenige grüßen noch in der Stadt, man ruft nicht mehr an, trotzdem sind die Verkaufszahlen sehr gut, die Lesungen gut besucht. Die Schriftstellerin als Beute, das Buch als endlose Angriffsfläche für jederman. "Wir sind noch immer in der Epoche des Opfers": Im Laufe der Aufzeichnungen gerät Angot in den Sog antiker Figuren. Es sind Antigone, Ödipus, Odysseus, allesamt aus der Gesellschaft Ausgestoßene, Suchende, ums Überleben Kämpfende.

Als Schriftstellerin geht es Angot um den Text, der die anderen sind und wenn um sich selbst, dann um das Ich als ein ebenfalls anderes. Aber die Leser suchen immer nach dem Existenzgrund in den Büchern und deshalb verurteilen sie die, die in ihren Augen diesen Existenzgrund mit ihrem Schreiben beschmutzen. Und dann gibt es nur noch die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, um die eigene Haut zu retten. Angot wird also weggehen, aber mit dem Ziel, wiederzukommen. Sie wird sich ihre Haut wieder zueigen machen, sie wird irgendwann den Inzest hinter sich lassen. Mit diesem Buch hat Christine Angot begonnen, Ordnung zu schaffen. Ihr Schreiben wird eines Tages nicht mehr Inzest sein, sondern etwas anderes, bisher noch Unbekanntes, auch ihr selbst Unbekanntes. Sie wird aus der Tragödie heraustreten. Wir dürfen gespannt sein.

Titelbild

Christine Angot: Die Stadt verlassen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christian Ruzicska.
Tropen Verlag, Köln 2002.
192 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3932170504

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