Das Eigentliche und das Umfassende

Georg Simmels Aufsätze und Abhandlungen aus den Jahren 1909-1913

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Band 12 der Gesamtausgabe von Georg Simmels Schriften liegen nun die Aufsätze und Abhandlungen aus den Jahren 1909 bis 1913 vor. Die vier Jahre waren nicht zuletzt durch die Arbeit des damals in Berlin lehrenden Philosophen an einem umfangreichen Opus über Goethes Leben und Werk geprägt. Dieser Schwerpunkt von Simmels damaligen Schaffen schlägt sich auch in dem vorliegenden Band nieder. Von den 34 versammelten Beiträgen aus Zeitungen, Zeitschriften, Jahrbüchern und Sammelbänden befassen sich allein acht mit dem Weimarer Klassiker. Oft handelt es sich dabei um Vorarbeiten zu oder Vorabveröffentlichungen von einzelnen Kapiteln der 1913 erschienen Monographie. Behandelt werden etwa "Goethes Individualismus", "Goethes Liebe" oder "Das Verhältnis von Leben und Schaffen bei Goethe". Ein weiterer Text gilt dem Vergleich Goethes mit Kant. Bei ersterem, so Simmel in den Anfangszeilen, handele es sich um "das größte historische Beispiel des Menschen, der nur von innen heraus, nach seinen eigenen Entwicklungsnotwendigkeiten lebt, von dort aus die Forderungen des Objektes erfüllt und zu einem reinen Bilde der Objekte gelangt". Kant habe hingegen, "von vornherein unter der Herrschaft objektiver Ideen" gestanden, die "von sich aus sein subjektives Wesen zu ihnen adäquaten Formen" gestalteten. Der Subtext lässt sogleich erkennen, wo Simmels Sympathien liegen. Noch deutlicher wird der Autor, wenn er kurz darauf schreibt, in Goethe sei "etwas von ewiger Jugend, während Kant von vornherein etwas altes" habe.

Kontrastiert Simmel die beiden, so entdeckt er in einem anderen Text überraschende Gemeinsamkeiten mit einem dritten großen Geist, der sich selbst vermutlich für einen weit gründlicheren "Alleszermalmer" hielt als Kant. Die Rede ist von Friedrich Nietzsche, dem kein Superlativ zu gewaltig war, wenn es galt, das Hohe Lied auf sich selbst anzustimmen. Beide, Nietzsche wie Goethe, besaßen Simmel zufolge ein "eigentümliches Wissen um die Frauen". Männer ihrer "Art", meint der Autor, pflegten "gar kein erhebliches Beobachtungswissen um die einzelnen Frauen zu haben". Vielmehr sei ihnen die "'Idee' von den Frauen [...] eine 'Gott weiß wie entstandene' Kenntnis des Typus Frau, den jede einzelne vielleicht nur unvollkommen verwirklicht, der aber doch die eigentliche Wahrheit, das tiefste Wesen des Geschlechts" bedeute. Hierzu lässt sich zumindest zweierlei anmerken: Zum einen scheint es nicht ganz unproblematisch, Goethes und Nietzsches "Beobachtungswissen" um Frauen kurzerhand gleichzusetzen, zumal sich zumindest ersterer nicht bloß aufs Beobachten beschränkte. Zum anderen handelt es sich bei dem, was Simmel hier dunkel umschreibt, durchaus nicht um eine Kenntnis des 'weiblichen Wesens', sondern im Gegenteil um das Wesen von Männerphantasien.

Zwar gelangt Simmel in anderen Texten, die sich dem "Geschlechter-Problem" und der "weibliche[n] Kultur" widmen, zu der Einsicht, dass die Normen, an denen "die Intensität und die Ausgestaltungsformen des männlichen und des weiblichen Wesens" gemessen werden, nicht neutral sind, sondern selbst "männlichen Wesens". Dennoch raunt er auch hier ganz ähnlich, dass Frauen in der "tiefsten Identität von Sein und Weibsein" lebten. In der Schwangerschaft, so Simmel biologistisch, zeige sich die "Selbständigkeit des Geschlechtlichen an der Frau" am "extensivsten" und die Mutterschaft sei "Erscheinung" und "Symbol" des "absoluten Weiblichen, von dem das Männliche und das Weibliche im Relationssinne erst getragen" werde. Bei aller dieser Geschlechtermetaphysik gebührenden Kritik ist immerhin bemerkenswert, dass Simmel in Umkehrung der allgemeinen Auffassung, die das Männliche als allgemeines verkennt, ohne sich dessen bewusst zu werden, umgekehrt das Weibliche zum Eigentlichen und Umfassenden erklärt, und zwar explizit.

Titelbild

Georg Simmel: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Band 1. Gesamtausgabe Band 12.
Herausgegeben von Klaus Latzel.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
552 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3518284126

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