Gewaltig herbeidampfende Klangrauchballungen
Gert Jonkes Roman "Der ferne Klang" verursacht mehr als nur Ohrensausen
Von Monika von Aufschnaiter
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Es ist immer das Geheimnis, das ein künstlerisches Werk anziehend macht", hat Gert Jonke einmal gesagt. Sein Roman "Der ferne Klang" verfügt tatsächlich über eine sirenenhafte Anziehungskraft; auch wenn man sich dagegen sträubt - fasziniert von Jonkes Sprachklangbilderrhythmus taumelt man von einer Bewusstseinsklippe zur nächsten, gefangen in der Hoffnung auf eine Auflösung, die es nicht gibt.
Neben "Schule der Geläufigkeit" und "Erwachen zum großen Schlafkrieg" gehört der erstmals 1979 beim Residenz-Verlag erschienene und jetzt bei Jung und Jung neu aufgelegte Roman zu den großen Musikerwerken Jonkes, dessen Ziel es ist, "im Klang mit der Sprache zu musizieren". Auch in diesem Roman beschäftigt den kürzlich mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichneten Autor die Frage nach der Wahrnehmung der Realität, nach dem Sinn des Daseins. Das äußere Geschehen erscheint als Projektionsfläche für eine Wirklichkeit, die sich jeder objektiven Interpretation entzieht und somit das vom Protagonisten erlebte Gefühl des "Fern-von-sich-selbst-Seins" widerspiegelt. Als Erzählform hat Jonke konsequenterweise das Du gewählt - ein Ich, das nur verwendbar wäre, wenn man "wirklich in vollem Ausmaß empfinden und fühlen könnte", will der Protagonist nicht einmal in seinen Selbstgesprächen akzeptieren. Der Erzähler liefert Anweisungen und Erklärungsversuche wie ein fremdbestimmtes Ich, das unbeteiligt neben der Hauptperson steht.
Schon der Beginn zeigt eine verschwimmende Wirklichkeit: Ein junger Mann - offensichtlich der Komponist aus der "Schule der Geläufigkeit" - sitzt "wie in einem Schiff" in seinem Haus und lauscht einer ergreifenden Musik aus den Schornsteinen der Stadt. Es klingelt, und als er öffnet, steht ein riesiger Schrank vor der Tür. Bald darauf muss der junge Mann eingeschlafen sein, denn am folgenden Morgen erwacht er im Zimmer einer geschlossenen Anstalt. Man sagt ihm, er habe versucht, sich umzubringen. Er kann sich an nichts dergleichen erinnern und fordert vergeblich eine Erklärung - die entscheidenden Seiten seiner Krankenakte sind unauffindbar. Die düstere Atmosphäre aus Bürokratie und Willkür wird einzig durch eine ihm seltsam vertraute Frau aufgehellt. Nach einer Affäre mit ihm verschwindet SIE jedoch spurlos; keiner in der Anstalt will ihm Auskunft über IHREN Verbleib geben. Der Mann flüchtet und macht sich auf die Suche nach IHR, wobei in diesem groß geschriebenen Wort die Frau und seine ungeklärte Vergangenheit verschmelzen.
In der "Stadt in der Ebene" begegnet er einem befreundeten Dichter, den er zusammen mit einem Theaterensemble auf der Fahrt in die Nachbarstadt begleitet, denn in dem Dorf auf halbem Wege hofft er, SIE zu finden. Nach einer Fahrt durch fantastische Landschaften findet sich der junge Mann jedoch am Ausgangspunkt wieder, da die Strecke unterbrochen ist und der Zug wieder zurück geleitet wurde. Eine Fahrtmöglichkeit in das Dorf lässt sich nicht ermitteln; Er bleibt also in der Stadt, in der tags darauf eine Revolution gefeiert wird: Mit dem Schlachtruf "Alles wird anders!" lässt man aus allen Fenstern zerrissene Akten schneien. Nach der Begegnung mit einer Frau, die ihn zuerst an SIE erinnert, dann aber plötzlich Ähnlichkeit mit einer Toten annimmt, verlässt der Mann die Stadt. Er wandert zu den Maisfeldern hinaus, auf deren ausgehöhlten Stangen der Wind einen "Tongewebeflächenbrand" entfacht, eine "tönende Krankheit", die in seinen Ohren wie eine Untergangssinfonie klingt.
Jonkes Genie erschöpft sich auch in diesem Roman nicht in Mehrfach-(Selbst-)Reflexionen und poetischer Sprachakrobatik, klangvollen Endloswortkompositionen und Mäandersätzen. Immer wieder lässt er aus dem Strudel von Wirklichkeitsdemontage, Zweifel und Sinnlosigkeit Situationen erstehen, die durch ihre Ironie alles andere überstrahlen. Besonders die kritische Darstellung von Bürokratie hat es Jonke angetan. Da wird zum Beispiel ein Fluss verklagt, weil er ausgerechnet durch teures Bauland fließt, und nach langer Paragrafenreiterei schließlich zur ordentlichen Regulierung überdacht. Durch seine Symbolhaftigkeit bietet Jonkes Roman jedoch auch Gelegenheit zu gesellschaftskritischer und politischer Interpretation: Die zuerst begeisterten Teilnehmer der Sonntagsrevolution müssen schließlich vor der erstickenden Papierflut auf die Felder hinaus flüchten - die Revolution frisst ihre Kinder. Und ein Zuhörer des Maisstangenkonzerts fragt, warum man diese Krankheit, bei der Schädlinge die Stangen aushöhlen, nicht rechtzeitig erkannt und im Keim erstickt habe. Ob denn dieser Schädling sich bei ihnen entwickelt habe? - Nein, entgegnet ein anderer Zuhörer, es sei natürlich von irgendwoher gekommen, da könne man sich sicher sein.
Am Ende schließt sich der Kreis: Der Mann kehrt zurück in sein Haus, das er immer noch wie ein Schiff empfindet, die Schornsteine blasen noch immer ihren Choral. Er irrt in den Gedankengängen des Anfangs umher und fragt sich, ob er das Ich deshalb meidet, weil er sich bei der "Besichtigung" seiner Erinnerung "einer Geschichte über sich ..." davor fürchtet, festzustellen, dass die Geschichte "von Anfang an beendet war", bevor sie hätte beginnen können. Lösung findet er auch jetzt keine. Es klingelt, und vor der Tür steht wieder der Schrank. So wie er am Anfang "aufzuwachen vermutet", hegt er auch jetzt "den ganz stillen Verdacht, zu erwachen".
Gert Jonke macht es seinen Lesern mit "Der ferne Klang" nicht einfach. So manches Mal möchte man "Genug der Worte!" schreien, weil man fürchtet, in den "gewaltigen Klangrauchballungen" zu ersticken. Doch wenn man sich darauf einlässt, erlebt man ein Fest für die Sinne, wie es die heutige Literatur selten bietet - eine Polyphonie, die mit Mark erschütterndem Bass und ätherischen Obertönen Bewusstseinsräume sprengt.
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