Das kluge Ohr

Hans Magnus Enzensbergers politisches Lyrikschaffen

Von Rouven ObstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rouven Obst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer schneller sollen Entscheidungen und Abwägungen in der modernen Gesellschaft vollzogen werden: Wir erleben das Vorpreschen der exekutiven Ungeduld gegenüber dem legislativen Debattieren als wesentlichem politischen Moment der Demokratie.

Derart holt uns im politischen Diskurs des letzten Jahrzehntes ein längst historisch geglaubter Militarismus ein. Die Vergangenheitsbeschwörungen, wie Hans Magnus Enzensberger sie in einem unverhofft aktuellen Gedicht der neunziger Jahre, "Kriegserklärung", zur Sprache bringt, sind Ausdruck einer politischen Kultur, in der "uns nichts Besseres einfällt" als Krieg. Diese Entwicklung "zurück" zu einer Überbetonung der "Inneren Sicherheit", so der hochaktuelle Titel eines weiteren Gedichtes aus den Siebzigern, lässt sich in Enzensbergers Gedichten wunderbar ablesen.

Die in der Gedichtauswahl vorgelegte Spanne von 1950 bis 2000 bedeutet das ganze Panorama der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik. Wir beginnen bei der "Geburtsanzeige", in der es schon heißt "verraten und verkauft"; heute ist diese marxistische These unter Globalisierungsgegnern und in den linkspolitischen Theorien Antonio Negris und anderer weiter zentrales Motiv der Analyse der modernen "Dienstleistungs- und Mediengesellschaft". Und wie könnte besser das kollektive Verdrängen der NS-Zeit während der Restaurationszeit beschrieben werden als in den Zeilen "die Esel // Wie eine Meuterei / bricht das Glück, wie ein Löwe aus" ("Utopia"). Wie übermütig der erwachsene Löwe doch geworden ist und immer noch so wenig gelassen und entspannt. Da kann uns auch "Die Große Göttin" wenig helfen, wenn sie auch noch so viel "flickt und flickt", denn es kann passieren, dass sie mal einnickt, "ein Jahrhundert lang". Und in der Zwischenzeit hat sich der Teppich unter ihrer Hand in unzählige Vorleger verwandelt: flicken, flicken, flicken.

Dieses "Minimalprogramm" ist eine unbedingt lesenswerte und günstige "Kleine Geschichte der Bundesrepublik". Wunderbare und inhaltlich wie ästhetisch erholsam streitbare Gedichte. Zeitgleich mit der Entwicklung der BRD verfolgen wir die Reifung von Hans Magnus Enzensbergers Lyrik. Die 107 Gedichte bedeuten eine kleine repräsentative Auswahl, wovon eines - "Unterlassungssünden" - in diesem Lesebändchen seine Erstveröffentlichung findet.

In einem der späten Gedichte, "leisere Töne" (erstmals publiziert im Gedichtband "Leichter als Luft", 1999), wird nach dem lauten Trommeln der frühen Gedichte ("Bildzeitung", "Geburtsanzeige", "Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer", "Landessprache") Besonnenheit angemahnt. Hier ruft einer nach differenzierter Wahrnehmung: "Weniger Krach in der Lyrik" heißt eben auch besser Zuhören. Unterstrichen wird das durch die beigelegte CD des Hörverlages auf ganz besondere Weise. Doch ist diese mit wenigen Gedichten - vom Autor selbst gelesen - bestückt. Die CD ist insofern eine symbolische Zugabe, aber noch deutlicher eine Werbezugabe des Hörverlages: Suhrkamp Taschenbuch lancierte im letzten Jahr die "exclusive" Reihe "Ich hörte sagen", acht Taschenbuch-Neuausgaben inclusive einer CD mit Lesung des Autors.

Gerade an diesem Punkt können Enzensbergers Gedichte, in Zeiten aggressiver Werbung, Zeiten der politischen Kraftmeierei und Zeiten des öffentlichen Stammtischgeredes uns einer Besinnung näher bringen. Die Betriebsblindheit, mit der heute im Showbusiness der Politik alte Tiraden der Verachtung des demokratischen Debattierens der Zeit der Weimarer Republik wiederholt werden, lässt erschaudern. Die Poesie kann da als Lehrmeisterin des Nachdenkens wirken, gegenüber der blindwütigen Besserwisserei narzisstischer Selbstdarsteller. Und so bereitet es offenbar nicht einmal der Kunst-Branche Sorge, wenn ihre Vorhaben ins Gegenteil umschlagen: Der, der nur noch schreit, der schreit nur noch - geradezu unerhört. Und was schreit er? Laut. Das Schreien wird zum Kainsmal. Und so schreit alles zum Himmel. Was bleibt, was kommt? Enzensbergers Poesie, das kluge Ohr und die ketzerische Frage: "Was weiß ein Mund".

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950 - 2000. Mit CD.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
170 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3518398539

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