Engel, Industriegebiete und Gedichte

Kurt Drawert zeigt seine "Frühjahrskollektion"

Von Caroline AlbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Albert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von IKEA und Neckermann bis hin zu Beckett und Verdi reichen die Betrachtungen in Kurt Drawerts neuem Gedichtband "Frühjahrskollektion". Schon die drei Kapitelüberschriften "Ich liebe Industriegebiete", "Die Engel der Landstraße" und "Geld & Gedichte" lassen die Themenvielfalt erahnen, die der mehrfach ausgezeichnete Autor (u. a. Ingeborg-Bachmann-Preis 1993) hier präsentiert. Schonungslos analysiert der lyrische Sprecher unsere Konsumgesellschaft des alten und neuen Jahrtausends. Kritisch wird nicht nur die Zerstörung der Umwelt ins Blickfeld gerückt, sondern besonders auch die Selbstzerstörung der Spezies Mensch. Der Umgang mit Zeit wird genauso thematisiert wie die tägliche Reizüberflutung und die Sinnlosigkeit des Materialismus, der die westliche Welt beherrscht. In Gedichten wie "Idylle, rückwärts" und "Fit for fun" deckt Drawert gnadenlos den von Medien und Fitnesstudios vorangetriebenen Körperwahn auf. Gleichzeitig jedoch erscheint der Mensch als unselbständige, hypochondrige Kreatur, die nur noch abhängig von Ärzten und moderner Medizin, als "Homunkulus", existiert. Mal offen, mal subtil wird die Gesellschaftskritik - oft anhand von alltäglichen Situationen - in den Gedichten geäußert. Niemals aber geschieht dies mit erhobenem Zeigefinger.

"Frühjahrskollektion" ist weit mehr als eine geschickte Gesellschaftskritik. In Gedichten wie "Zwischen den Zeilen" steht die Lyrik, die Kunst selbst, im Mittelpunkt: "Es gibt viele schöne Dinge für ein Gedicht, die ein Gedicht nicht mehr brauchen, weil sie schon schön sind." Nachdenklichkeit, ja fast schon Melancholie zeichnet auch die Liebesgedichte aus, die sich gleichwohl nie in Sentimentalitäten verlieren: "Doch ich mochte es, dir in der Ferne näher zu sein als in der Nähe die Ferne zu spüren." Auch biographische Aspekte sind in einigen Gedichten zu erkennen, so zum Beispiel in "Rückblick, vierzigjährig", in dem - wie auch schon in früheren Werken Drawerts - das Leben in der DDR und die Ost-West-Problematik thematisiert werden.

Nicht nur die große Themenvielfalt ist für diesen Gedichtband charakteristisch, auch die unterschiedlichen Verweise sind ein wichtiges Merkmal dieser lyrischen Sprache, oft von Ironie und Selbstironie gekennzeichnet. So wird zum Beispiel Neckermann in einem Atemzug mit griechischer Mythologie genannt: "diese schaukelnde Barke über den Styx mit Ausblick vom geheizten Abteil, Neckermann sei dank", und auch Querverweise auf einige der bedeutendsten Künstler der abendländischen Kulturgeschichte, wie Dante, Verdi, Rilke, Brecht und Beckett sind in den Gedichten zu finden. Schon anhand dieser mehr oder weniger versteckten textuellen Bezüge wird Drawerts Umgang mit Kontext und Sprache deutlich: Der Autor spielt mit Wortbedeutungen und Assoziationen. Dies wird zum Beispiel anhand des Gedichtes "Quiz" deutlich, in dem das so erfolgreiche Konzept der Spielshows parodiert wird: "wie viele Juden, vier oder drei, es geht um eine halbe Million, Sie können auch das Publikum fragen" Der thematischen Vielfalt entspricht auch die Vielfalt der Formen in "Frühjahrskollektion", bei der das strenge Metrum mit Reimbindung ebenso vertreten ist wie der elegische Langvers, und das "klagelied (barock)" ebenso seinen Platz hat wie das Rollengedicht.

Ob ironisch oder nachdenklich, ob schonungslos realistisch oder verträumt: In den Gedichten, die Drawert in diesem sehr lesenswerten Lyrikband präsentiert, ist immer die Freude des Autors an Sprache und Spiel offensichtlich.

Titelbild

Kurt Drawert: Frühjahrskollektion. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
92 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 351841304X

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