Drei Sekunden Gegenwart

Warum wir uns Zeit nehmen sollten

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unsere Lebenserwartung hat sich gegenüber dem Mittelalter verdoppelt, trotzdem könnte ein Bauer von damals einen Banker von heute bedauern, denn dessen gewonnener biologischer Lebenszeit steht der ungeheure Verlust des Jenseits und der Ewigkeit entgegen. Ob wir also wirklich Zeit gewonnen haben?

Die Mechanisierung des Haushalts verringerte bislang nicht die durchschnittliche Belastung durch Hausarbeit (ca. 50 Stunden pro Woche). Der Computer erspart zwar viele stupide Tätigkeiten, aber immer neue Soft- und Hardware zu beherrschen, immer wieder vor dem Bildschirm auf die nächste Internetsite zu warten, kostet immense Zeit. Natürlich haben wir mehr Freizeit als die Industriearbeiter im 19. Jahrhundert, aber bei vielen artet es in Stress aus, die Mußestunden sinnvoll zu füllen.

"Das Leben als letzte Gelegenheit" hieß ein Buch von Marianne Grönemeyer. Ein Titel, der deutlich machte, wie verzweifelt alle bemüht sind, die einmalige Chance Leben perfekt zu nutzen, wie panisch sie verpasste Gelegenheiten fürchten. Zeitmanagement, das Zauberwort in Politik, Industrie, Gesellschaft, diktiert inzwischen sogar das Privatleben von Mutter, Vater, Kind. Doch immer öfter enden die Beschleunigungsanstrengungen im rasenden Stillstand, im Stau, in der Paralyse, im Herzinfarkt.

Michel Baeriswyl ruft deshalb dem Bewusstsein raubenden Zeitterror ein scharfes "Halt" zu. Sein Buch "Chillout" plädiert dafür, wenigstens für die Lektürezeit des Buches innezuhalten und - aus wohlverstandenem Eigeninteresse - über unser Verhältnis zur Zeit nachzudenken. Um Baeriswyl zu folgen, muss man kein Philosoph sein. Sehr klar legt er dar, wie die drängendsten unserer aktuellen ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme unmittelbar mit unserer rücksichtslosen Zeit(un)kultur zusammenhängen.

Der Mensch scheint keinen Zeitsinn zu haben, doch gibt es innere, biologische Uhren. Neurophysiologen stellten beispielsweise fest, dass Gegenwart für das Hirn drei Sekunden dauert, dann beginnt ein neuer Take. Über hundert natürliche Rhythmen, vom Herzschlag bis zum Jahre dauernden Knochenumbau, durchpulsen unseren Körper; unser Zeitgefühl ist noch immer das der Jäger und Sammler. Einerseits nimmt der Takt der modernen Gesellschaft darauf keine Rücksicht, andererseits ermöglicht uns die moderne Technologie Handlungen, deren Folgen unseren Zeithoriziont und unsere Zeitverantwortung offensichtlich weit übersteigen: Jahrtausende lang strahlende Atomabfälle, irreversible Wasser- und Luftverschmutzung, fortschreitende Bodenerosion und Artenausrottung. Selbst wo ein politisches oder technologisches Gegensteuern möglich wäre, geschieht wenig, zu langsam oder gar nichts.

Baeriswyl ist keineswegs ein simpler Moderne-Miesepeter, der Rückkehr zur Natur und zur Langsamkeit fordert. In unserer jetzigen Situation wäre das nicht nur naiv, sondern schlicht unmöglich. Vielmehr geht es ihm um die "Suche nach kulturellen Zeitmaßen, die sich mit den Rhythmen und Eigenzeiten der inneren und äußeren Natur des Menschen vertragen." Schon die grundsätzliche Missachtung und Aufhebung natürlicher Rhythmen durch die Nonstop-Gesellschaft, wie Schichtarbeit, verschiedenste 24-Stunden-Dienste und -Öffnungszeiten, Flüge durch die Zeitzonen, Aufhebung von Feiertagsbeschränkungen, um nur einige zu nennen, erklärt er für gefährlich. Sie begünstigen Unfälle und Krankheiten, untergraben soziale Bindungen, beschleunigen Raubbau an der Natur und verursachen dadurch Hunderte von Milliarden volkswirtschaftlichen Schadens. Noch wesentlich schlimmer aber: der unverantwortliche Umgang mit der Zeit verspielt unsere Zukunft.

In der Sache kann man Baeriswyl also nur unterstützen und hoffen, dass viele seinen Überlegungen folgen. Leider erschwert er das dem Leser, wenn er Gemeinplätze und Schlagwörter anhäuft, Rechnungen nicht überprüft (beim TV-Konsum), Mythen der Moderne aufsitzt (der Babyboom nach dem Blackout), auf billige Polemik setzt oder unbelegte Behauptungen aufstellt. Bedächtigkeit und mehr Zeit für die kritische Durchsicht hätten hier viel geholfen.

Baeriswyls Lösungsvorschläge für die Zeitmisere stimmen in den meisten Punkten, wie Nachhaltigkeit oder Regionalismus, mit Ökologen wie Ernst Ulrich von Weizsäcker überein, betonen aber deren zeitliche Komponenten. Er fordert nichts weniger als eine neue Zeitpolitik. Unsere Gesellschaft, so sein Resümee, muss sich "möglichst viele Zukünfte offen halten", wofür die "Erhöhung des Raum- und Zeitwiderstands" unerlässliche Voraussetzung sei. Nur dann nämlich bleibt uns Zeit, gibt es die Möglichkeit des "Chillout", der "Beruhigung und Sammlung der Kräfte".

Titelbild

Michel Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur.
dtv Verlag, München 2001.
257 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3423242086

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