Computertheorie des Geistes

Denken als Informationsverarbeitung

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kognitionswissenschaftler Steven Pinker ist ein Universalist mit der Fähigkeit, große Ideen miteinander zu verknüpfen. Die Hauptidee seines neuen Buches "Wie das Denken im Kopf entsteht", synthetisiert verschiedene Disziplinen zu einer großen Metapher, ähnlich sei unser Gehirn, ähnlich dem Computer, eine "informationsverarbeitende Maschine" Ein System aus Rechenorganen, die durch natürliche Selektion entstanden seien: "Ich behaupte, Denken sei Rechnen, aber das heißt nicht, daß der Computer eine gute Metapher für den Geist wäre."

Die wichtigsten Funktionen oder Fähigkeiten des Geistes behandelt Pinker in acht Kapiteln; das theoretisch-methodologische Fundament seiner Darstellung bezieht er von dem Anthropologen John Tooby und der Psychologin Lea Cosmides, zwei kalifornischen Wissenschaftlern, die eine neue Disziplin, die "Evolutionspsychologie" geschaffen haben. Diese Disziplin basiert auf einer Kombination von Kognitionsforschung und Evolutionsbiologie: "Die Kognitionswissenschaft hilft uns zu verstehen, wie Geist möglich wird und was für einen Geist wir besitzen. Die Evolutionsbiologie hilft uns zu verstehen, warum wir einen solchen Geist besitzen."

Anders als ein bedeutender Zweig der Hirnforschung interessiert sich Pinker weniger für die physischen bzw. organischen Aspekte der menschlichen Intelligenz. Er versucht zu zeigen, daß die gesamte Metaphorik für den organischen Bereich, einschließlich der Psychologie, aus überholten Bildbereichen stammt, zum Beispiel aus der Mechanik und Hydraulik. Freuds energetischer Triebbegriff, so Pinker, beziehe seine Logik aus der Hydraulik: Das Anfluten endogener Reize unterwirft den Organismus einer inneren Spannung, die kanalisiert und abgeleitet werden muß. Dieses Modell sei komplett falsch, weil sich - selbst bei heftigsten Gefühlen - im Gehirn keine Anhäufung und Entladung von Energie (im physikalischen Sinne) zeigen lasse. Das Gehirn, so Pinker, funktioniert nicht aufgrund eines inneren Drucks, sondern aufgrund von "Information", und Information sei eine "Beziehung zwischen zwei Dingen, die durch einen gesetzmäßigen Vorgang" entstehe: "Das besondere ist die Informationsverarbeitung. Ein Stück Materie, das Informationen über bestimmte Verhältnisse trägt, können wir als Symbol betrachten; es kann für diese Verhältnisse stehen. Aber als Stück Materie kann es auch andere Dinge tun - physische Dinge, und zwar alle, zu denen dieses Stück Materie nach den Gesetzen von Physik und Chemie in der Lage ist."

Pinkers Ansatz verstößt gegen die vorherrschende Lehrmeinung über den Geist, verstößt gegen das "Sozialwissenschaftliche Standardmodell" (SSM), demzufolge zwischen der Kultur und der Biologie eine grundlegende Trennung besteht. Das SSM postuliert für sich, "psychologisch korrekt" zu sein, weshalb Lehrmeinungen, die das SSM in Frage stellen, in Amerika wütend bekämpft werden. Hinter Pinkers Aussage, daß die Gene Körper und Geist geschaffen hätten, vermuten die Anhänger des sozialwissenschaftlichen Standardmodells einen neuen Sozialdarwinismus mit einem "eugenischen" Forschungsaspekt.

In seinem Buch geht es ihm um das "alltägliche Wunder", das Lebewesen vollbringen, indem sie funktionieren, einfach weil sie durch ihren Geist, ihre "Software" dazu in die Lage versetzt sind. Ihn faszinieren vor allem die einfachen und doch komplexen Probleme, die unser Geist zu bewältigen hat, wenn es darum geht, verschiedene Handgriffe zu koordinieren oder "Allgemeinwissen" zu speichern, das von keiner Datenbank je erfaßt und erschlossen werden könnte. Er versucht darzustellen, wozu die verschiedenen "Teile" des Gehirns entwickelt worden sind, was ihre Aufgabe ist und wie sie arbeiten. Seine Methode ist die der "analytischen Technik" (dies der wenig glückliche Terminus für das amerikanische "reverse engineering"): Man zerlegt, analysiert, rekonstruiert eine unbekannte Maschine, um daraus ihre Aufgabe und Funktionsweise abzuleiten. Das Problem ist jedoch, daß die "analytische Technik" nur möglich ist, "wenn man einen Hinweis hat, welchem Zweck ein Apparat dienen soll."

Pinkers Ansatz des "reverse engineering" kann zeigen, wie ein Gerät funktioniert, wenn es funktioniert, er kann zeigen, wie sich Ideen in der technischen Innovation umsetzen, wie und weshalb bestimmte Einheiten (hier "Replikatoren" genannt) in identischer Form weitergereicht werden, während andere verändert werden (müssen). Diese "Computertheorie des Geistes" kann jedoch schwerlich erklären, wie "Individualität" entsteht. Es ist sicher richtig, daß wir, wenn wir eifersüchtig sind, uns im Straßenverkehr aufregen oder beglückt einer Bachkantate folgen, uns in einer Bandbreite erwartbarer Gefühlsäußerungen bewegen. Und vielleicht stimmt es, daß unser Verhalten auf bestimmten Modulen beruht, die in einer Art Basis-Pattern abgerufen werden. Aber das ist ein allzu grobes Raster. Unerklärt bleibt die individuelle, auch kulturell geprägte Besonderheit unseres Verhaltens, ungeklärt bleibt, wie sich - über einen bloßen Algorithmus von "trial and error" hinaus - "Lernen" vollzieht, wie und wo sich das Erlernte im Gehirn manifestiert und welche Zeichen, Kodes oder Symbole es repräsentieren.

Was die Kodierung, was die genetische Verankerung der Software anbelangt, ist Pinker weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen - hier gleicht sein Buch eher einem fiktiven bzw. literarischen Werk in der Nachfolge Isaac Asimovs als einem wissenschaftlichen Beitrag zur Intelligenzforschung. Bevor eigentlich die Grundlagenarbeit geleistet ist, wartet der Autor mit einer ermüdenden Beispielfülle auf, mit vorwissenschaftlichen Metaphern, mit Hilfe derer sich viel erträumen, aber wenig belegen läßt.

Titelbild

Steven Pinker: Wie das Denken im Kopf entsteht. Aus dem Amerikanischen von Martina Wiese und Sebastian Vogel.
Kindler Verlag, München 1998.
768 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3463403412

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