Liebe, Sex und Tod auf dem Land

Alexander Ikonnikows Geschichten aus der russischen Provinz

Von Klaus KastbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Kastberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vergessen wir Moskau und St. Petersburg, und verzichten wir für einen Moment auf das verstiegene Leben der Neureichen, über das in heutigen Russlandbüchern gerne berichtet wird. Das alte, wahre und dabei flächendeckend arm gebliebene Land findet sich anderswo, nämlich in der Provinz. Alexander Ikonnikow, noch keine dreißig Jahre alt und als Schriftsteller nicht nur bei uns, sondern auch in seiner Heimat so gut wie unbekannt, hält dieses Russland in seinen Geschichten fest. "Taiga Blues" nennt sich ein Band mit mehr als 40 Kurztexten, die der Autor auf den Lehmstraßen der Dörfer und bei den Menschen der Kolchosen gefunden hat. Hier draußen ist sie anzutreffen, die russische Seele, die bekanntlich eine weite Landschaft braucht und dabei nicht immer in die engen Körper passt. Schon der erste Text des Sammelbandes macht das Missverhältnis zwischen der inneren und der äußeren Welt deutlich. Die Erzählung nennt sich "Das Bein" und beginnt wie ein Märchen: "An einem eiskalten Februarabend hackte die Melkerin Krotowa beim Streit mit ihrem Mann diesem im Suff ein Bein ab. Sie tat dies mit der Axt zum Brennholzmachen. Der Schlag war so heftig, dass der Knochen durchgehauen war und der Notarzt nur noch die restliche Haut durchtrennen musste. Der Mann wurde ins Krankenhaus gebracht, die Frau auf das Milizrevier, alle wollten losfahren, da fragte plötzlich einer: "Und was machen wir mit dem Bein?"".

Mit dem abgehackten Stück geht es den Leuten ungefähr so wie mit der Leiche aus Hitchcocks Film-Klassiker "Immer ärger mit Harry". Keinem geht das Ding ab und keiner weiß so recht, was man mit ihm machen soll. Schließlich verfallen bei Ikonnikow die Milizbeamten auf die Idee, das Bein einfach in den Wald zu schmeißen. Die Wölfe würden es fressen, was diese dann aber partout nicht tun. Schließlich wird das blutige Teil von einer Reisigsammlerin gefunden und der Wald von einer aus Moskau herbeigeorderten Spezialeinheit nach weiteren Leichenstücken durchsucht. Was die Leute finden, ist typisch für die russische Provinz: sechs unangemeldete Waffen, zwei gestohlenen Autos, einen deutschen Fallschirm aus dem Zweiten Weltkrieg und ganze sechzehn Geräte zum Schnapsbrennen.

Der Wodka ist es, der die inneren Räume der Menschen schnell aufschließt. Wie ein roter Faden, oder besser gesagt: wie ein glasklarer Fluss schlängelt sich das Getränk durch Ikonnikows Geschichten. Was mit besten Absichten beginnt, endet meist im Suff. Ein Kolchosendirektor etwa richtet für die Belegschaft nach erfolgreicher Ernte ein Fest aus. Die Leute hören aber auch am Montag durchaus nicht zu saufen auf und verscherbeln nach und nach fast alle Strohballen. Mit den Privatbauern der Umgebung hat sich der Verkehr gut eingespielt. Man bleibt kurz vor dem Gehöft stehen, nimmt vorne auf dem Traktor eine Flasche Selbstgebrannten in Empfang, während hinten auf dem Anhänger wie durch ein Wunder ein Teil der Fuhre herunterfällt und im nächsten Scheunentor verschwindet. In einer anderen Geschichte behauptet ein Mann namens Jegor, dass er selbst nur zwei Lebensprinzipien kennt: Erstens fahre er nie mit dem Auto, wenn er betrunken sei. Zweitens sei er immer betrunken. Eine bessere Begründung für die Bevorzugung eines so rückschrittlichen Transportmittels wie des Pferdefuhrwerkes habe ich noch nicht gehört. Das Pferd findet mitsamt der Schnapsleiche immer nach Hause.

Ikonnikow lässt es in seinen Geschichten nicht an Deutlichkeit fehlen; seine Figuren denunziert er dennoch nicht. Das Leben der Leute ist in einen postsowjetischen Zusammenhang eingebunden, gegen den man schon allein deshalb nichts haben kann, weil man außer ihm rein gar nichts hat. In seinen kurzen, teilweise fast stenogrammartigen Beschreibungen vermittelt der Autor ein Gefühl für den Alltag am Land. Der Arbeitstag eines Traktoristen wird ebenso geschildert wie der Besuch eines Aufklärungsoffiziers in einer Schule, wobei dies alles hinter einem Schleier zu liegen scheint, den die große Weltgeschichte aus einer Laune heraus noch nicht ganz vorgezogen hat.

Die neue Zeit zieht mit neuen Produkten ins Land. Ein Bauer kauft für seine Frau eine Waschmaschine, vergisst aber darauf, dass es dafür auch Schläuche und einen Abfluss braucht, weshalb die Arme unter dem Spott der Leute bald wieder zum Wäschewaschen an den Fluss zurückkehren muss. Coca-Cola-Dosen und -Flaschen brauchen in der russischen Provinz nicht extra entsorgt zu werden. Die Leute nutzen die Leergebinde als Aschenbecher, Vasen und Blumentöpfe. Besonders einfallsreiche Menschen verkünden im Fernsehen, wie man daraus Christbaumschmuck, Taschenlampen, Spielzeug-U-Boote und sogar ein Floß mit 1,5 Tonnen Wasserverdrängung basteln kann.

Trotz ihrer aussichtslosen Lage sind die Menschen nicht unglücklich, zumindest sind sie froh, mit ihrer speziellen Art des Glücks in keiner anderen Welt (und schon gar nicht in Moskau) leben zu müssen. Die Verstocktheit der Leute gehört zur Heimat wie ihr Gottvertrauen. Ikonnikow gelingt in seinen Geschichten ein Kunststück, er lässt beides nebeneinander bestehen: den Starrsinn der Provinz und die besten Wünschen für eine unbehelligte Zukunft. "Liebe, Sex und Tod auf dem Lande" heißt eine kurze Geschichte, die davon berichtet, dass im "ewigen Dorf" eigentlich nie etwa anders wird: Der Traktorist Kolja und die Melkerin Sweta leben "bis auf den heutigen Tag in Liebe und Einverständnis" - schöner als hier könnte sich eine sentimentale Dichtung nicht sein.

Titelbild

Alexander Ikonnikow: Taiga Blues.
Übersetzt aus dem Russischen von Annelore Nitschke.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2002.
176 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3828601502

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