Die Ordnung der Dinge im Nachsommer
Axel Fliethmann liest Stifter mit Foucault
Von Franz Adam
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Sekundärliteratur zu Adalbert Stifter hat seit ihrer allmählichen Abkehr von weltanschaulichen Bekenntnissen - wie sie lange das Stifter-Bild der Nachkriegszeit bestimmten - und der damit einhergehenden Konzentration auf methodisch reflektierte Textanalyse ein Ausmaß angenommen, das selbst von Fachleuten nur mehr mühsam rezipiert werden kann. Auch heute noch spiegeln sich hier die wechselnden bzw. konkurrierenden Moden und Methoden der Literaturwissenschaft wider.
Axel Fliethmanns Kölner Dissertation von 1999 initiiert ihre Rezipienten in die höheren Weihen der vergleichenden Diskursanalyse. Um es vorwegzunehmen: Die Beurteilung der in dieser Arbeit vorgestellten Thesen ist letzten Endes Glaubenssache, und der Rezensent muss gestehen, nicht der Konfession des Autors anzugehören. Die vorherrschend hermetische Diktion behindert bereits die Reformulierung des zugrundeliegenden Erkenntnisinteresses erheblich, trotz der rekurrenten Zusammenfassungen. Für Nichteingeweihte (und nicht nur für sie) wird die Grenze zur Parodie oft mutig überschritten; eine Kostprobe aus dem Inhaltsverzeichnis: "ZWEITER TEIL / I. Doktor / II. Rezeption: Genre/Gattung / III. Rezeption: Wissenschaft / IV. Hirsch / V. Mathematik und/oder Ordnung". "Die Arbeit wird das Problem der Stelle angehen", heißt es kryptisch zu Beginn, denn eine exakte Begriffsdefinition erspart sich der Autor und führt lediglich an, dass seine Arbeit "deshalb nicht ohne bedingungslosen Gebrauch von Stellen auskommen" werde. "In Auseinandersetzung mit Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme" schlägt Fliethmann "eine Anwendung von Selbstreferenz in der Philologie" vor, "die sich auf die Operation Lektüre und eine Lektüre der Analogie beschränkt. Der blinde Fleck des Verfahrens wurde als Stelle bestimmt". In einem ersten, theoretischen Teil wird so das Begriffsfeld um "Selbstreferenz", "Analogie", "historische Figur" und "Roman" beackert, um auf die im zweiten Teil demonstrierte praktische Nutzanwendung vorzubereiten: eine, cum grano salis, vergleichende Lektüre von Adalbert Stifters "Nachsommer" (1857) und Michel Foucaults diskurshistorischem Grundwerk "Die Ordnung der Dinge" ("Le mots et les choses", 1966). Fliethmann beschränkt sich zur Demonstration seines Verfahrens auf diese beiden, verweist aber auf ähnliche Beziehungen "zwischen der Kultursoziologie Pierre Bourdieus und den soziologischen Romanen Theodor Fontanes, zwischen der Kunstkritik in Gottfried Kellers "Grünem Heinrich" und Adornos "Ästhetischer Theorie", zwischen Derridas Grammatologie und E. T. A. Hofmanns [sic] "Kater Murr", zwischen Hegels und Luhmanns ,Welten'". Ohne Zweifel zeugen Fliethmanns Ausführungen von einer profunden Quellenkenntnis, die sich zum einen in kritischen Fußnoten zur Stifter- und Foucault-Literatur offenbart, die man zum anderen aber von einer Dissertation auch erwarten darf. Das gut dreizehnseitige, Quellen und Sekundärliteratur programmatisch einheitlich erfassende Literaturverzeichnis bietet eine Fülle von teils Entlegenem zum Thema, bezeichnenderweise aber nichts an Theorie, was die eigenen Prämissen ins Wanken bringen könnte: Ausführlich beruft sich Fliethmann auf die üblichen Verdächtigen Deleuze, Derrida, Lacan & Co., etwa wenn es darum geht, die angebliche Unmöglichkeit der Differenzierung zwischen textinterner Objekt- und externer Wissenschafts-/Beobachtungssprache zu belegen. Zur "Vermischung von Objekt- und Metasprache in literaturwissenschaftlichen Kommentartexten" lassen sich natürlich genügend abschreckende Beispiele, gerade aus der Stifter-Literatur selbst, zitieren - wovon Fliethmann denn auch billig Gebrauch macht -, allein die generelle Infragestellung der Ebenendifferenzierung wird dadurch schwerlich plausibel. Der bis dato einzige umfangreiche Versuch einer semiotischen Stifter-Lektüre, Christian Begemanns "Die Welt der Zeichen" (1995), firmiert bei Fliethmann unter "weniger überzeugend"; wissenschaftlich nachprüfbare Modellbildungen, wie sie etwa in den semiotischen Ansätzen von Lotman, Genette oder Hempfer für die Literaturtheorie geleistet wurden, ignoriert er geradezu konsequent. Hätte der Autor sich darauf eingelassen, so hätte er seine Fragen "Kann man Heinrich Drendorf über die symmetrischen Räume der episteme Foucaults wandern lassen? Sind die Fußnoten in der "Ordnung der Dinge" die Holzwege im "Nachsommer"?" gleich selbst mit "Nein!" beantworten können und sich obendrein die spitzfindige Diskussion über den "Nachsommer" als Roman oder Nichtroman erspart. (Darüber, dass er im Gegensatz zur "Ordnung der Dinge" ein fiktionaler Text ist, dürften auch weiterhin kaum Zweifel bestehen.) Statt dessen wird die Argumentation durch suggestive Zitate aus den heterogensten Kontexten geschmückt (vorzugsweise aus Bret Easton Ellis' "American Psycho"). Freilich gelingen Fliethmann, wenn er sich in Textdaten (oder "Stellen") vertieft, statt in historischen Bocksprüngen analoge Ordnungsprinzipien bei Stifter und Foucault auszumachen, auch relevante Beobachtungen: Die Funktion der Lektüre im "Nachsommer" ist trotz aller Manierismen wohl selten so detailliert beschrieben worden wie in der vorliegenden Arbeit. Aber wozu der ganze Aufwand darum herum? Ob der Foucault-Forschung nurmehr auf diese spekulative Weise Reverenz erwiesen werden kann, stehe dahin; der Stifter-Forschung wäre eine œuvreübergreifende Rekonstruktion der erzählten Ordnungen und Regularitäten sowie ihrer Relationen zum kulturellen Wissen der Epoche auf jeden Fall dienlicher. Die umfassende narrative Grammatik zu Stifter bleibt somit auch weiterhin ein Desiderat.