Fruchtbare Gravitation um ein leeres Feld

Über ein interdisziplinäres Lexikon zum Forschungsfeld "Gedächtnis und Erinnerung"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben "Musik" und "Schlaganfall" miteinander zu tun? Was "Neurotransmitter" und "Nietzsche"? "Holocaust" und "Zettelkasten"? "Klassentreffen" und "Friedhof"? "Narbe" und "Lügendetektor"? "Dachboden" und "Quiz"?

Nicht viel, möchte man meinen. Und täuscht sich. Handelt es sich doch um Aspekte, die alle auf die eine oder andere Weise etwas zum Thema "Gedächtnis und Erinnerung" beitragen.

Dieses Feld aber, eines der zentralen in der Wissenslandschaft, wird seit langem gleichzeitig beackert von den diversen Einzeldisziplinen, von Natur- und Kulturwissenschaften. Meist, ohne die Ernten der Konkurrenz dabei zur Kenntnis zu nehmen. In den Worten Aleida Assmanns: "Das Phänomen des Gedächtnisses ist in der Vielfalt seiner Erscheinungen nicht nur transdisziplinär in dem Sinne, daß es von keiner Profession aus abschließend und endgültig zu bestimmen ist, es zeigt sich auch innerhalb der einzelnen Disziplinen widersprüchlich und kontrovers."

Mit Nicolas Pethes und Jens Ruchatz haben nun ein Literatur- und ein Medienwissenschaftler ein interdisziplinäres Lexikon herausgegeben, dass diesem Missstand Abhilfe verschafft. Es bietet eine eindrucksvolle Zusammenschau der Ergebnisse und Positionen aus den Kulturwissenschaften wie Ethnologie, Kunstgeschichte oder Religionswissenschaft, aus den Literatur- und Medienwissenschaften, aus Psychologie, Psychoanalyse und Neurobiologie, aus Pädagogik und Philosophie. 450 Lemmata umfasst das höchst anregend zu lesende Nachschlagewerk, das einerseits einen Überblick über die wichtigsten Forschungsfelder der Gedächtnistheorie bietet, zugleich aber auch ein produktives Instrument für die zukünftige Forschung sein will. Jeder der Artikel konzentriert sich auf jenen Aspekt des jeweiligen Konzepts, der seine Gedächtnisfunktion betrifft. Bei Einträgen wie "Gewissen" oder "Gehirnwäsche" liegt dieser auf der Hand, bei Einträgen wie "Fest" oder "Spiel" jedoch muss er erst herausgearbeitet werden: so stiften Feste als Ausdruck kulturellen Erinnerns innerhalb sozialer und religiöser Gruppen Identität, und Spiele dienen nicht zuletzt der Einübung des Kindes in ein angemessenes Sozialverhalten.

Auffallenderweise finden sich in dem Nachschlagwerk die Einträge "Gedächtnis" und "Erinnerung" nicht. Dies deshalb, weil sich die Herausgeber auf keine verbindliche Position berufen wollen, von der aus diese Konzepte definiert werden könnten: "Die einzelnen Artikel gravitieren gleichsam um das 'leere Feld' Gedächtnis und Erinnerung. [...] Die Artikel tragen lediglich Facetten zusammen, die als Teil eines Komplexes betrachtet werden können, ohne dass sich dieser zu einem einheitlichen Bild fügte. Auf diese Weise bildet gewissermaßen das Lexikon in seiner Gesamtheit den zersplitterten Artikel Gedächtnis und Erinnerung."

Wohl mit Recht konstatieren die Herausgeber, dass die Hoffnung auf eine integrative Gedächtnistheorie bis auf Weiteres aufgegeben werden muss: "Gedächtnis und Erinnerung bilden einen Themenkomplex, der verschiedene wissenschaftliche Diskurse kreuzt, ohne sie zu verbinden." Bei "Gedächtnis und Erinnerung" wird prototypisch jenes Problem sichtbar, das die disziplinäre Aufsplitterung mit sich bringt und das Niklas Luhmann so beschrieben hat: "Sobald die Disziplinen wie Eisschollen auseinander bersten und, wenn auch im Wasser, ihre eigenen Wege dümpeln: was wird dann aus dem 'dazwischen'? Was wird aus 'übergreifenden Fragestellungen', die nur beantwortet werden können, wenn das Fachwissen mehrerer Disziplinen zusammenkommt?"

Der Ausweg aus dem Dilemma, der Interdisziplinarität, aber auch Pluralität der Zugangsweisen Rechnung tragen zu wollen, ohne über eine Superposition, eine verbindliche oder bevorzugte Theorie zu verfügen, die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in den einzelnen Gedächtnisforschungen, -theorien und -methoden aufzeigen zu wollen, die Anschluss-, aber auch die Abbruchstellen - kann nur in einem Lexikon bestehen, dass einerseits mit seiner alphabetischen Gliederung ein sinnfreies Ordnungskriterium aufweist, andererseits aber durch Querverweise überraschende Anschlussmöglichkeiten präsentiert: "Das alphabetisch gegliederte und durch Querverweise vernetzte Lexikon ist damit die exakte mediale Entsprechung zu einer Interdisziplinarität, die die Disziplinen offen hält, statt sie zu einer notwendig simplifizierenden Synthese zu führen" Welche überraschenden Anschlussmöglichkeiten dieses Lexikon eröffnet, zeigt sich, wenn man von "Straßennamen" zum "kollektiven Gedächtnis" gelangt, von dort zu "Nietzsche", von diesem zu den "Mnemotechniken", die wiederum unter anderem zur "Oralität" führen ...

Titelbild

Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
700 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3499556367

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