Ein "jüdischer Roman", aber "nicht aus Marzipan"

Martin Beradts "Die Straße der kleinen Ewigkeit" zwischen Schtetl-Tradition und literarischer Moderne

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Roman über Juden, Ostjuden gar, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Weg in ein besseres Leben im Berliner Scheunenviertel Unterschlupf finden und dort, im Herzen der Metropole, ein traditionelles Schtetl-Leben führen, ein solcher Roman wird, zumal wenn der Autor Jude, Zeitgenosse und Augenzeuge ist, sein Publikum finden. Die gar nicht so kleine Gruppe der durch die Shoah für das "Andere" Sensibilisierten, die sich für die jüdische Lebenswelt interessieren und deren authentische Ausprägung in Klezmer-Musik und Salcia Landmanns Anthologien suchen, könnte auch "Die Straße der kleinen Ewigkeit" in ihren Lektürekanon aufnehmen.

Es darf bezweifelt werden, dass Martin Beradt (1881-1949) diese Leserschaft im Auge hatte, während der zwanzig Jahre, die er, nach eigener Aussage, an seinem Roman arbeitete, und noch weniger später, nach dem Ende der Naziherrschaft, als er vom amerikanischen Exil aus vergeblich nach einem Verleger für sein Buch suchte. Der Versuch, den Roman unmittelbar nach der Shoah zu publizieren, scheiterte mehrfach. Erst 1965 gelang es der Witwe des Autors, Charlotte Beradt, das Werk im frankfurter Heinrich Scheffler Verlag unterzubringen. Dort erschien es unter einem Titel, in dem das Zugeständnis an den Lesergeschmack der Zeit mitklingt und von dem sich auch der Eichborn Verlag, der das Buch jetzt verlegt, nicht hat trennen mögen: "Die Straße der kleinen Ewigkeit".

Lange zuvor hatte auch die New Yorker Buchorganisation den Roman zurückgewiesen, "weil er antisemitisch sei", wie Beradt 1946 in einem Brief nach Palästina schreibt. Er resümiert nicht ohne Bitterkeit, "das heißt offenbar, daß er nicht aus Marzipan besteht; ich hatte gute und schlechte Juden geschildert und wendete Mittel des modernen Romans an Stelle der Sentimentalität an, die so viel in ostjüdischen Geschichten zu finden ist".

Das stimmt. Der Berliner Rechtsanwalt und Schriftsteller Martin Beradt wollte einen "jüdischen Roman" schreiben, "dessen Mittelpunkt nicht eine einzelne Person, sondern die Grenadierstraße in Berlin mit ihrem Gewimmel von Ostjuden vor Hitlers Zeit ist". Und er nannte dieses Buch nach seinen Helden: "Beide Seiten einer Straße". Die Straße nicht nur als begrenzter Schauplatz, sondern zugleich als Held eines Romans, in dem sich Zeitgeschehen und Menschenschicksal miteinander verweben - an diesem ambitionierten Programm war schon der junge Raabe mit seiner "Chronik der Sperlingsgasse" fast gescheitert, erst knapp hundert Jahre später reüssierte John Steinbeck mit der "Straße der Ölsardinen". Im Unterschied zu Raabe verzichtet Beradt aber auf die Figur des Chronisten, der Episoden und Bilder bündelt. "Die Straße der kleinen Ewigkeit" kommt ohne personalen Erzähler aus und gewinnt ihre formale Einheit ausschließlich aus dem Erzählton, aus einem etwas altmodischen, auf die Pointe des psychologischen Details zusteuernden, aber nicht im modernen Sinne analytischen Duktus, der Anekdotisches mit Philosophischem verbindet und ebensoviel Menschenliebe verrät wie Abgeklärtheit. So erfährt der Leser in Beradts Roman viel über den Beruf des Bettlers, der sich im Ostjudentum als geist- und ehrenvolle Berufung erhalten hat und erst unter den Bedingungen der modernen Großstadt an Ansehen und Kunstfertigkeit verliert, oder über die als traditionell jüdisch geltende Wohltätigkeit und den sprichwörtlichen Familiensinn. Beide personifizieren sich in der bei Verwandten unterkommenden unverheirateten Tante, einer Institution: "In dieser Gasse lebte in jedem Hause eine. Diese hier, Ida Perles, sehr lang, sehr dünn [...] litt, denn sie wollte sich verschwenden. Sie ließ nicht gelten: Wenn man dir gibt, so nimm! Sie dachte umgekehrt: wenn man dir gibt, gib doppelt! Und der Stachel wurde nicht weniger spitz, weil sie in ihrer Anspruchslosigkeit fast verkümmerte. Seit Ewigkeit sah man an ihr dasselbe Kleid, sie wagte kaum sich darin zu setzen [...] In einem Glase ihres Kneifers war ein Sprung, die weißen Blitze zuckten nach allen Seiten, nur jemand, der sich völlig überwunden hatte, konnte durch ein solches Glas noch sehen."

Das Panorama, das der Roman zeichnet, ist zuweilen, das lässt sich nicht verschweigen, nah am Genre, das in den traditionellen Ghetto-Geschichten des 19. Jahrhunderts, die in Ost- und Ostmitteleuropa spielen, untrennbar mit jener Sentimentalität verbunden ist, der Beradt so gern entgehen will. Auch deswegen verlegt er, in Analogie zur realhistorischen Entwicklung, die in sich geschlossene jüdische Welt des Schtetl von Osteuropa in das Berliner Scheunenviertel der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Autor, der aus einer orthodoxen Familie stammt, für seinen Roman Reisen nach Polen und Russland unternimmt und sich mit ethnologischen Forschungen beschäftigt, sucht der historischen Entwicklung nicht nur ethnographisch, sondern auch literarisch Rechnung zu tragen. Eine Marginalie macht allerdings deutlich, dass Beradts formalästhetisch avanciertere Erzählwelt mit der konventioneller dargebotenen, vielleicht sentimentaleren seiner Vorläufer vieles verbindet, und dass der Bruch vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht an der Textoberfläche, sondern an anderer Stelle seine Spuren hinterlässt: Zum innerjüdischen Kosmos des Scheunenviertels gehören auch Zionisten. Sie sind Nebenfiguren, religiös, auch schon sozial motivierte Sonderlinge, die an die Heimat Erez Israel gemahnen und dorthin streben. Selbstverständlich gehören sie zum Personal der jüdischen Welt in der Nussschale; ihre Anwesenheit gefährdet nicht den Bestand der prekären Idylle der Grenadierstraße und stellt auch deren enklavische Existenz nicht ernsthaft in Frage. Zwar bricht der junge Zionist Seraphim am Ende tatsächlich nach Palästina auf, doch als die Bewohner der Gasse ihn neidvoll verabschieden, "Sie haben es gut [...] Sie gehen nach Erez", erwidert er: "Ja, ich hab's gut, aber Sie haben's auch nicht schlecht." Und als man ihm ironisch repliziert: "Nein, nischt schlecht, wir leben hier wie die Fürsten", holt der idealistische Zionist zu einer Verteidigungsrede der jüdischen Gasse im Zentrum Berlins aus: "Wie die Fürsten nicht, aber ihr friert nicht wie die Leute in den anderen Straßen, sie bleiben sich fremd, ihr könnt euch mit jedem in der Gasse hinstellen. Und ihr habt den Kopf voll von tausend, was sag ich, von zehntausend Geschichten, die uns überliefert sind, ihr hängt ganz eng mit Gott zusammen und glaubt fest an die Zukunft - da soll es jemand geben, der euer Leben armselig findet? Ihr lebt über die Dinge hinaus, die euch umgeben, damit seid ihr größer, als ihr scheint, und vielen überlegen, die sich mehr dünken."

Beradts "jüdischer Roman" endet mit einer Apologie des traditionellen Judentums in der Diaspora und mit einer nostalgischen Verklärung, die aber - und darin liegt der Unterschied zu Texten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wie etwa Komperts Erzählungen "Aus der Judengasse" - sentimentalischer Natur ist und diese Vermitteltheit als solche ausstellt. Beradts Rückkehr zu einem obsoleten Erzähl- und Denkmodell überspringt, dies aber sehr bewusst, die politischen und literarischen Kontroversen, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und zugespitzt in der so genannten Kunstwart-Debatte die - nicht nur jüdische - Publizistik beherrschten. Sein Roman behauptet die Existenzberechtigung und die Möglichkeit einer in sich abgeschlossenen jüdischen Lebenswelt mitten im Deutschland der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, fern von jener deutsch-jüdischen Symbiose, von deren kulturellen Hervorbringungen vorrangig die deutsche Kultur profitierte. Er tut dies ebenso trotzig wie selbstbewusst; wenn er heute als sentimental erscheint, so ist das nicht dem Text anzulasten, sondern dem nationalsozialistischen Zerstörungswerk, das mit den Menschen ihre Lebensformen und ganze Welten vernichtet hat. Dagegen kommt kein Text an.

Titelbild

Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Ein Roman aus dem Berliner Scheunenviertel. Mit einem Essay und einem Nachruf von Eike Geisel.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
370 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3821847174

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