Der Triumph der Erwartung über die Realität

Über den Status zeitgenössicher englischer Literatur in Deutschland und den Buchmarkt in England

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Denkt man an zeitgenössische englische Schriftsteller, die es auch außerhalb der Insel zu Ruhm und beachtlichen Verkaufszahlen gebracht haben, bringt man schnell eine Liste mit berühmten Namen zustande: Rushdie, Swift, Amis, Welsh, Kureishi, Winterson, Self, Hornby, Byatt - um nur einige wenige von den Autoren zu nennen, die sich zum Teil seit Jahren einer internationalen Leserschaft erfreuen. Doch wie sieht es mit jenen englischen Autoren aus, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen, in ihrem Heimatland in den letzten zwei Jahren ein oder zwei Romane publiziert haben und von den englischen Feuilletons positiv besprochen worden sind? Man denkt an Zadie Smith, die mit "Zähne zeigen" ebenso grandios wie erfolgreich debütierte, und dann an - niemanden. Ein Blick in die Programme der deutschen Verlage für das Frühjahr 2002 erklärt dies schnell: Die Verlage setzen beim Kauf der Rechte an zeitgenössischer englischer Literatur vor allem auf die etablierten Autoren.

Die Idee dieses Schwerpunkts zu zeitgenössischer englischer Literatur in Deutschland war es vor allem, einen Überblick über die englische Literatur zu geben, die die deutschen Verlage den Lesern in diesem Frühjahr anbieten, wobei die Verlage vor allem mit bekannten Namen auf Nummer Sicher gehen: Irvine Welshs neuer Roman "Klebstoff" erscheint im Juni bei Kiepenheuer & Witsch, Salman Rushdies "Wut" ist bereits bei Kindler erschienen, und Suhrkamp hat "Indien kann warten" von Magnus Mills im Angebot. Ansonsten fällt bei den rund zwanzig neuen englischen Titeln dieses Frühjahrs auf, dass Programme mit Romanen wie "Die Mädchen mit den dunklen Augen" von Judith Lennox und "Ein Sommer im Garten" von Sue Gee auf Ferienlektüre setzen.

Und wo sind die jungen englischen Autoren? Der Residenz Verlag offeriert mit Helen Humphreys "Der vergessene Garten" der geneigten Leserschaft einen kleinen, aber feinen Roman; Suhrkamp schickt mit Julia Leigh und Nicola Barker gleich zwei englische Autorinnen der jüngeren Generation ins Rennen; Eichborn setzt auf den poetischen Erstling "Wie Nalda sagt" von Stuart David, dem Kopf der Band Belle & Sebastian; und Schneekluth hofft mit Santa Montefiores unerträglicher Familiensaga "Der Geisterbaum" wohl vor allem darauf, die Rechte an Weltbild und den Bertelsmann Club zwecks Massenverbreitung gewinnbringend zu verkaufen.

Schaut man auf die Shortlists der beiden größten englischen Literaturpreise - dem Booker Prize und dem Whitbread Award - für die Jahre 2000 und 2001, fällt auf, dass in den letzten beiden Jahren die Zahl der für einen der beiden Preise nominierten Autoren, die anschließend einen deutschen Verlag fanden, abgenommen hat. Dies verwundert, da beide Preise dem deutschen Lektor literarisches Talent praktisch auf dem Silbertablett offerieren. Wurden im Jahr 2000 von den sechs Autoren, die auf der Shortlist des Booker standen, noch vier im darauffolgenden Jahr in Deutschland verlegt, waren es von der Booker-Shortlist 2001 gerade mal noch zwei Autoren. Beim Whitbread Award zeigt sich diese Entwicklung noch deutlicher: Von den vier nominierten Autoren des Jahres 2000 fanden drei einen deutschen Verlag, im Jahr darauf war es nur noch einer. Noch verblüffender ist die Bilanz von der Shortlist für Debütautoren, von der man meinen sollte, das sie eine Goldgrube für Lektoren sei: 2000 schafften es drei Erstlinge auf die Shortlist, wovon einer ins Deutsche übersetzt wurde. 2001 waren es vier junge Autoren auf der Shortlist der Debütanten, wovon keiner einen deutschen Verlag fand.

An Material mangelt es also nicht. Der englische Buchmarkt ist in den letzten zwanzig Jahren stetig gewachsen; wurden 1980 noch rund 48.000 neue Titel verlegt, waren es 1994 bereits über 88.000 und im Jahr 2000 über 116.000 (Zahlen: The Guardian) - wobei die Quantität natürlich nichts über die Qualität auszusagen vermag. In den letzten Jahren wurde der Markt vor allem von der sogenannten "Chick Lit" dominiert, einer wahren Flut an Unterhaltungsromanen, geschrieben von jungen attraktiven Frauen, die sich multimedial vermarkten ließen, für ebensolche Leserinnen. Helen Fielding hatte den Trend mit dem Erfolg ihrer "Bridget Jones"-Romane losgetreten. Alsbald wurden horrende Vorschüsse an junge Autorinnen gezahlt, deren Geschichtchen von One-Night-Stands, Markenkleidung und Beziehungsproblemen handelten. Erst Zadie Smiths Erstling "Zähne zeigen" setzte diesem Trend sowohl inhaltlich als auch von den Verkaufszahlen her etwas entgegen. Allein in Großbritannien verkaufte sich der Roman über 100.000 mal als Hardcover und fast 1.000.000 mal als Taschenbuch (Zahlen: The Guardian). Smith hat für ihren Roman den sagenhaften Vorschuss von 250.000 Englischen Pfund erhalten - und steht damit am Beginn eines wahren Preiskrieges zwischen den Verlagen um junge Autoren, was auch die Zurückhaltung deutscher Verlage beim Einkauf der Rechte an englischen Manuskripten erklären könnte. Englische Verlage bieten unbekannten Autoren heute Vorschüsse zwischen 50.000 und 300.000 Englischen Pfund für ihre Debütwerke an, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, ob sich ein Roman überhaupt verkaufen wird, aber immer in der Hoffnung, den nächsten großen Hit zu landen, eine weitere Zadie Smith oder den neuen Nick Hornby zu entdecken. Eine Entwicklung, die auch dem deutschen Verlagswesen nicht fremd sein dürfte und die sich wohl auch auf die Preise für die Rechte an englischen Romanen niederschlägt.

"It is the triumph of expectation over reality", sagte Patrick Janson-Smith, Deputy Managing Director beim Verlag Transworld, in einem am 14. Mai diesen Jahres in der englischen Tageszeitung "The Observer" erschienenen Artikel über die Preistreiberei der Verlage, und merkte an, dass sich die englische Buchindustrie zunehmend wie die Filmindustrie verhalte. Verlage machen auf der Grundlage von Manuskript-Auszügen und -Zusammenfassungen Verträge mit Autoren, die oftmals erst nach Vertragsabschluss mit dem Schreiben des eigentlichen Manuskripts beginnen - das dies ein Geschäft mit hohen Verlusten ist, muss ebenso wenig erklärt werden wie die Antwort auf die Frage, wer da auf lange Sicht die Rechnung zahlen wird.

Penguin, der Verlag Zadie Smiths, bereitet sich inzwischen auf den nächsten durchschlagenden Erfolg vor: Hari Kunzru hat für seinen Erstling "The Impressionist" einen Vorschuss von 250.000 Englischen Pfund für zwei Romane in Großbritannien und eine Million US-Dollar für die amerikanischen Rechte erhalten und wird vom Verlag als männliche Version Zadie Smiths vermarktet: "He'll be reviewed for his advance first and for his story telling second", schrieb der Kritiker Robert McCrum am 17. März in seinem Artikel "The literary lottery" im "Observer" und er dürfte wohl Recht behalten.

Aber auch etablierte Autoren wollen inzwischen ein Stück vom Kuchen abhaben: Graham Swift, Autor so erfolgreicher Romane wie "Waterland" und "Last Orders", hat seinen neuen Roman "The Light of Day" sechs großen englischen Verlagen angeboten, obwohl er seit Jahren beim Verlag Picador eine Heimat gefunden hat. Der Preiskrieg hat begonnen und Swift wird wohl dem meistbietenden Verlag den Zuschlag geben - sehr zur Verbitterung seines bisherigen Verlegers.

Dass das Geschäft mit der Literatur im Zeitalter von alles aufkaufenden Konzernen wie Random House der Musik- und Filmindustrie immer ähnlicher wird, ist eine Entwicklung, die sich wohl kaum noch aufhalten lassen wird, auch wenn auf lange Sicht die Vielfalt und die literarische Qualität nur darunter leiden können, wenn alles dem Geschmack der breiten Masse angepasst wird. Dennoch wünscht sich der Liebhaber zeitgenössischer englischer Literatur mutigere Lektoren, die nicht nur auf die zu erwartenden Besprechungen Santa Montefiores in einschlägigen wöchentlich erscheinenden Frauenzeitschriften schielen. Das Talent ist da. Verlegt es!

Anmerkung zur Gliederung des Schwerpunkts: Wir haben uns diesmal erlaubt, die Rezensionen zu kategorisieren. Sollten Sie sich ausführlich über die besten, coolsten und schönsten englischen Romane des Frühjahrs informieren wollen, so finden Sie alles, was Sie suchen, unter der Rubrik "Cool Britannia". Mit diesem Etikett wurden in den letzten Jahren, als alles Britische wieder hip wurde, die Musik englischer Bands und englische Mode versehen - und die von uns rezensierte Literatur hat sich das auch verdient. "Middle of the road" die zwar vielleicht nett zu lesen waren, uns ansonsten aber nicht begeistert haben, also kein "essential reading" sind. Die Rubrik "Don´t buy british" bedarf wohl keines Kommentars- Last but not least haben wir noch zwei Sachbücher im Angebot, die unter der Rubrik "Very British" bzw. "Very Irish" ein bisschen von dem Lebensgefühl der beiden grünen Inseln verströmen. Enjoy.