Gegen das Vergessen, gegen die Zeit

Erich Wolfgang Skwaras Roman "Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer"

Von Saskia SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stein steht seiner Frau und seinen beiden Töchtern hilflos gegenüber, er weiß nicht, was er ihnen sagen soll. Er liebt seine Familie, begehrt und liebt aber auch andere Frauen: Und einst verliebte er sich in Sophie, die für ihn die "reine Zerbrechlichkeit" ist. Er lernte sie kennen über Stéphane, seinen Freund. Lange hat er ihn nicht gesehen, doch jetzt kommt er Stein besuchen. Eine gemeinsame Autofahrt führt über Serpentinen in die Vergangenheit. Wie bei einem Wellengang wogen Gegenwart und Erinnerung auf und ab, die Zeiten schieben sich übereinander - dem Transatlantikflug ähnlich, den Stein alle zwei Monate bucht.

Ermüdet von Aktualität und Lebenswirklichkeit heuchelnden jungen Autoren, sehnt sich mancher Leser vielleicht nach einer Art von Literatur, die man reife Literatur nennen könnte. Nicht, oder nicht nur, weil ihr Autor reif ist: er muss nicht mit dem literarischen Zaunpfahl winken, sondern kann seine großen Themen entfalten in einer Sprache, die melodisch und die poetisch ist, ohne prätentiös zu sein.

Erich Wolfgang Skwara ist ein solcher Autor, der bisher beinahe verkannt war und dem erst in diesem Juni eine größere Ehrung zuteil wird: der Hermann-Lenz-Preis. Skwaras neuer Roman "Zerbrechlichkeit" zeigt, weshalb der Autor diesen Preis verdient, und: mehr Leser.

Der Titel 'Zerbrechlichkeit' weist auf eines der Leitthemen des Romans hin.

Stein versucht, mehr oder weniger unfreiwillig, zeitlos zu leben, er kann nicht planen, er ist zerrissen zwischen Möglichkeiten. Stéphane, der Karrierist, hat seine Zeit im Griff, im Terminkalender. Er verlebt sie exzessiv, nutzt sie aus. Die Frauen an seiner Seite kommen und gehen. Doch als Stein Sophie an der Seite Stéphanes entdeckt, weiß er, dass sie nicht seinem Freund, sondern zu ihm gehört. Der Freund überlässt sie ihm, weil er spürt, dass Stein anders lebt, anders liebt als er. Selbstvergessen liebt Stein, und so sieht er zwar die Toten der Place Beaudoyer als Omen, kann aber nicht anders, als Sophie weiterhin zu lieben - bis in den Tod.

Der Roman hat also eine Geschichte, doch das, was wirklich erzählt wird, geht darüber hinaus: Ein heimlicher zweiter Protagonist ist die Zeit. Stein, der Liebende, führt einen "wilden Aufstand" gegen sie: "Ich wollte mich nicht in sie fügen. Immer hatte ich davon geträumt, sie an den Hörnern zu packen und zum Stehenbleiben zu zwingen. Es war keine Kunst, die Zeit zu übertölpeln, aber sie mit ehrlichen Mitteln zu besiegen, das war noch keinem gelungen. Mächtig war die Zeit, klug war sie nicht. Das Herbeiholen und Zurechtrücken bunter Kulissen, das Überstreifen einiger Kostümreste, die günstigste Beleuchtung und ein paar Zitate, kunstvoll skandiert, reichten schon, um die Zeit zum gefügigen Statisten zu machen. Für kurze Zeit."

Der Erzähler dieser Geschichte ist so dicht an der Figur, dass das Erzählte fast wie eine Ich-Erzählung wirkt. Doch das Darzustellende schafft die Distanz, die nötig ist, um überhaupt erzählen zu können. Im Mittelteil des Romans bricht diese Distanz auf: Ein Ich-Erzähler berichtet vom Warten auf seine erste, die schmerzhafteste Liebe, und erst nach Jahrzehnten ist ein Wiedersehen möglich. Dass der andere, geliebte Mensch älter geworden sein könnte, fürchtet er, und auch er selbst ist gealtert: "Ich fuhr mit den Händen über mein Gesicht und spürte wieder die tiefen, harten Falten. Sie waren so tief, daß ich darin stecken blieb." Der Ich-Erzähler ist Stein: der vorhergehende Absatz leitet das Kapitel "Das Beschwören vergangener Mahlzeiten" mit den folgenden Worten ein: "Wenn Stein einen Roman schriebe, würde Stéphane ihn niemals lesen, [...] Stéphane hätte zum Lesen keine Zeit."

Zum Lesen keine Zeit zu haben, ist für manche Menschen schrecklich. Wem aber die Lektüre noch innere Welten eröffnet; wer sich in diese Welten noch entführen lassen kann, weil er von einer Sprache gelockt wird, deren Melodie nicht altertümelnd, sondern fern und weise klingt; wen anspruchsvolle, reife Literatur nicht schreckt, dem sei die 'Zerbrechlichkeit' ans Herz gelegt.

Titelbild

Erich Wolfgang Skwara: Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer. Roman.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
296 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3458171134

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