Viel Lärm um Wenig

Anmerkungen zum Streit um Walsers Roman "Tod eines Kritikers"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Soll man sich an diesem Streit überhaupt beteiligen? Der Anlass ist es kaum wert. "Tod eines Kritikers" ist zwar ein 'typischer Walser', insofern der Romanheld die Reihe der vielen narzisstisch gekränkten und pathologisch kränkbaren, durch Konkurrenzkämpfe und Machthierarchien geschädigten Figuren in seinem literarischen Werk fortsetzt, doch habe ich bislang noch nichts Langweiligeres, Belangloseres und Niveauloseres von diesem Autor gelesen. Wie hier etwa die Sprecheigentümlichkeiten Reich-Ranickis karikiert werden, ist so abgegriffen und einfallslos, dass es fast noch das satirische Niveau unterbietet, auf das Eckhard Henscheid, von dem die wohl peinlichste Stellungnahme zur Debatte (in "Die junge Freiheit" !) stammt, gesunken ist. Wer schützt Walser vor solchen Fürsprechern?

Dank Frank Schirrmacher ist das noch gar nicht erschienene Buch schon jetzt ein Verkaufserfolg. Bei Amazon.de, wo man es vorbestellen kann, besetzt es bereits den Verkaufsrang 4. Suhrkamp kündigt eine Startauflage von 50 000 Exemplaren an. Literaturkritische Warnungen vor dem Buch werden da kaum noch helfen. Martin Walser, der sich in seinen Romanen unablässig mit notorischen Verliererfiguren identifiziert, hat mal wieder gewonnen. Es spricht viel dafür, dass er den ganzen Lärm um sein Buch mit Kalkül zu inszenieren versucht hat und dass Schirrmacher, der sich die Chance nicht entgehen ließ, als Erster den Roman zu einem Skandal zu verklären, dabei sein größter Helfer war. Er ist damit in die Falle gelaufen, die Walser der FAZ gestellt hat, als er der Zeitung sein Manuskript zum Vorabdruck anbot.

"Niemals, wirklich niemals", so beteuerte Walser im "Spiegel" (3.6.2002), "hätte ich gedacht, dass es auf diese Weise abgelehnt wird, mit dem Vorwurf des Antisemitismus." Mit der Ablehnung scheint er, wie der Satz nahe legt, durchaus gerechnet zu haben. Dass er mit dem Vorwurf des Antisemitismus wirklich niemals gerechnet hat, ist kaum zu glauben. Denn der Roman nimmt ihn bereits vorweg. Glaubwürdiger ist in dem Interview eine andere Äußerung: "Ich habe eine Komödie inszeniert!"

Der Roman selbst will eine satirisch-komische Groteske sein. Der Triumph des Autors ist es, dass es ihm dank der FAZ mit seinem Roman gelungen ist, die gleiche Groteske noch einmal in der Realität des Kulturbetriebs in Szene zu setzen. Walser kommentierte dies denn auch mit unverhohlener Genugtuung: "Jetzt bemüht sich die Wirklichkeit, die Satire zu übertreffen." Der Ich-Erzähler des Romans liest just in der "Frankfurter Allgemeinen" einen Bericht über den Mordverdacht, dem sein Freund, der Schriftsteller Hans Lach, ausgesetzt ist, und über das, was sich auf der Party nach der Fernsehsendung des Kritikers ereignete: "Hans Lach habe offenbar sofort gegen André Ehrl-König tätlich werden wollen. Als ihn zwei Butler hinausbeförderten, habe er ausgerufen: Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Herr Ehrl-König möge sich vorsehen. Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen. Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen, die samt und sonders mit Literatur und Medien und Politik zu tun hätten, mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, daß André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust."

Es war vor allem eben diese Passage, über die sich Schirrmacher in der FAZ mehr als befremdet zeigte. Und es war der von der "Frankfurter Allgemeinen" dem Schriftsteller Lach zugeschriebene Hitler-Satz "Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen", den "man jetzt überall lesen und abends aus allen Kanälen hören" konnte. Das ist ein Zitat aus dem Roman; auch hierin ist er von der Realität eingeholt worden. Die im Roman beschriebenen Reaktionen auf die angeblichen Äußerungen von Hans Lach sind vielen Reaktionen des realen Feuilletons auf Walsers Roman frappierend ähnlich. Die Erklärung, "daß in Deutschland die Ermordung eines Juden doch wohl ein Faktum ganz anderer Art sei als in jedem anderen Land der Welt" - hat sie jemand in der Diskussion über Walsers Buch abgegeben oder in Walsers Roman selbst? Sie stammt ebenso aus dem Roman wie der Satz: "Erst jetzt hatten die Medien ihr Saisonthema gefunden."

Ich weiß nicht, ob es jemals einem Autor gelungen ist, die realen Resonanzen auf seinen Text in diesem selbst schon so genau zu beschreiben. Besondere hellseherische Fähigkeiten muss man ihm deshalb nicht bescheinigen; und auch der bekannte Mechanismus der "Sich selbst erfüllenden Prophezeiung" war hier nicht wirksam. Martin Walser hat vielmehr ein literarisches Spiel mit der Öffentlichkeit gespielt und die beabsichtigte Wirkung erzielt. Und er hat mit seinem Schlüsselroman so gespielt, dass sich die sprechende Wut auf Reich-Ranicki (und andere reale Personen) die miesesten Entgleisungen erlauben kann, ohne dass man den realen Autor dafür definitiv haftbar machen könnte.

Die in der Debatte und auch von dem betroffenen Kritiker inkriminierte Mordphantasie gehört da noch zu den harmlosesten Ausdrucksformen der Aggression. Spätestens seit Freuds "Traumdeutung" sollten wir wissen, dass Mord ein alltäglicher Teil menschlichen Phantasielebens ist, der sich sogar oder gerade gegen Personen richten kann, die man liebt. Wie skrupulös Walser mit dieser Phantasie umgegangen ist, zeigt sich nicht nur darin, dass er den Kritiker am Ende doch noch leben lässt. Sein Ich-Erzähler bekennt darüber hinaus (an einer der gelungenen Stellen des Romans): "Für mich war es immer die fürchterlichste Vorstellung überhaupt: jemanden umgebracht zu haben. Manchmal - sehr selten zum Glück - träumte ich das: du hast jemanden umgebracht, man ist schon auf deiner Spur, du siehst deiner Überführung entgegen, du mußt, um das zu verhindern, noch jemanden umbringen. Die Tage nach solchen Träumen sind immer die glücklichsten Tage überhaupt. Den ganzen Tag könnte ich summen vor Glück: du hast keinen umgebracht, Halleluja."

Auch dass sich Hans Lach in seiner Wut auf den Kritiker (angeblich) mit Hitler identifiziert, ist weder aus text- noch aus psychoanalytischer Sicht der Person Walser zur Last zu legen. Ebenso wenig wie die antisemitischen Stereotypen, mit denen sich die Sprache des Hasses auf Reich-Ranicki im Medium diverser Romanfiguren verbündet. So wie keine der Figuren in dem Roman einer realen Person völlig entspricht, so sind selbstverständlich weder Hans Lach noch der Ich-Erzähler mit dem Autor Walser identisch. Sie lassen sich psychologisch allenfalls als Persönlichkeitsanteile von ihm interpretieren, deren Hass der Autor zu Wort kommen lässt, doch zu denen der Autor gleichzeitig spielerische Distanz zeigt.

Literaturwissenschaftler tendieren dazu, die textanalytischen und theoretischen Skrupel gegenüber Aussagen über die Person des Autors und die Intention seines Textes zu weit zu treiben. Dass mit diesem Roman ein persönlicher, wenn auch keineswegs nur privater Konflikt zwischen Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki fortgeschrieben wurde, lässt sich nicht ignorieren. Deutliche politische und zugleich literaturprogrammatische Konturen erhielt dieser Konflikt nach dem Erscheinen von Walsers autobiographischem Roman "Ein springender Brunnen". Walsers umstrittene Rede, die er im Herbst 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt, war auch eine persönliche Antwort auf die Kritik an seinem Roman im "Literarischen Quartett". Vorgeworfen worden war ihm dort unter anderem der Mangel an ausdrücklicher Distanz zum Nationalsozialismus, an dessen Zeit das Buch erinnert. Auf Walsers Rede reagierte Reich-Ranicki wiederum am Ende seiner Autobiographie "Mein Leben". Er beschrieb sie hier als einen Text, in dem "es von vagen Formulierungen und bösartigen Anspielungen wimmelt und von Beschuldigungen, denen die Adressaten fehlen". Walsers "trotziges Bekenntnis zum Wegschauen von nationalsozialistischen Verbrechen" sei ein "Aufruf zur Nachahmung seines Verhaltens" gewesen. Walsers Rede habe ihn "tief getroffen und verletzt".

"Tod eines Kritikers" ist wiederum die Antwort eines seinerseits verletzten Schriftstellers auf "Mein Leben". Es ist in etlichen Einzelheiten eine Demontage dieser Autobiographie. Die Frage nach dem persönlich, öffentlich und literarisch angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit mag dabei kein dominantes Thema sein, ein wichtiges ist es gleichwohl geblieben. Auch deshalb kann einen die Debatte um Walsers Roman nicht unbeteiligt lassen.