Der Totmacher - oder vom Ende der Literaturkritik

Frank Schirrmacher hat ein Problem, nicht nur mit Martin Walser

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

1.

"Martin Walsers neuer Roman entzieht sich noch der Beurteilung. Frank Schirrmachers Lektüre dieses Romans nicht.

Schirrmacher prüft nicht den Kunstanspruch des Romans, liest ihn nicht als literarischen Text, sondern als "Exekution". Für ihn ist der Mordverdächtige nicht eine Figur des Roman, sondern dessen leibhafter Verfasser Martin Walser, Schirrmacher geht es nicht um die Figuren, sondern um eine einzige Figur. Diese ist, so dekretiert Schirrmacher, Marcel Reich-Ranicki, und mit dessen Darstellung habe sich Walser zugleich des Antisemitismus verdächtig gemacht.

Wie erbärmlich und verwerflich Walsers Roman immer sein mag - Schirrmachers Lektüre ist Literaturkritik von 1880, niedrigstes Niveau, Heinrich Düntzer, Biographismus, Modelljagd, Schnüffelei und Gesinnungsästhetik, das Ende der Literaturkritik, tiefer geht's nimmer. Aber hier spricht nicht allein ein Literaturkritiker, sondern zugleich ein Herausgeber der FAZ, der Walser und den Lesern der Zeitung mitteilt, daß der Roman dort nicht zu lesen sein wird. Hier wird nicht nur angeklagt, sondern auch exekutiert.

Als Literaturkritiker ist Schirrmacher nicht naiv. Er erklärt, er sei durchaus im Bilde, was die Begriffe "Fiktion, Rollenprosa, Perspektivwechsel" und dergleichen angehe. Aber er will sie nicht anwenden. Er will auch von der Literaturtheorie des Poststrukturalismus nichts mehr wissen, deren Jünger er einst war. Das Kunsthandwerk der Interpretation mag gut sein - wenn's nottut, schreibt man Sätze wie "lassen wir das" und kommt mit dem gesunden Volksempfinden aus. Dieser ästhetische Dezisionismus oder Opportunismus ist nicht kognitiven oder moralischen Prinzipien verpflichtet, sondern dem postmodernen Wahlspruch: "Hier stehe ich, ich kann auch anders." In einem halben Jahr kommt das Buch: "Die Walser-Debatte. Hrsg. von Frank Schirrmacher. Erschienen im Suhrkamp Verlag."

Als Schreiber hingegen ist Schirrmacher manchmal naiv. Er achtet nicht darauf, wann er "ich" und wann er "wir" schreibt, wie oft er "lieber Herr Walser" wiederholt und wie zwanghaft das Bekenntnis klingt: "Ich muß diese Absage öffentlich machen." Der Schlußteil seines Briefs verdeutlicht auch dem für Psychoanalyse unempfindlichen Leser, daß Schirrmacher mit Reich-Ranicki und dem Antisemitismus weit dringlichere Probleme hat als mit Walser, auf den er sie verschiebt. Hier spricht kein professioneller Literaturkritiker, sondern ein kaputter, der im Klima der gerechten Empörung gesunden will.

Martin Walsers neuer Roman entzieht sich noch der Beurteilung. Frank Schirrmachers Lektüre dieses Romans nicht."

2.

Dieser Kommentar wurde vor einer Woche geschrieben. Seither hat es wenige kluge und viele unkluge Stellungnahmen zum "Fall Walser" gegeben; unter ihnen war keine, die diesen Kommentar zum "Fall Schirrmacher" überflüssig machte.

Die Majorität der Literaturkritik ist dem "Haltet-den-Dieb"-Schrei Schirrmachers gefolgt, hat sich auf krummen Wegen ein unautorisiertes Exemplar von Walsers Roman besorgt und mit moralischen Aplomb und ohne Unrechtsbewusstsein auf den Autor eingedroschen. Dieser hat keinen Anspruch auf Mitleid, aber auf ein gerechtes Verfahren - Vorverurteilungen oder Proskriptionen sind in der Literaturkritik nicht vorgesehen.

Frank Schirrmacher hat den Weg für sie geebnet. Er hat das Besteck des Kritikers an den Nagel gehängt und zur Keule der Insinuation gegriffen. Er hatte alles Recht, den Vorabdruck des Romans abzulehnen, er hätte jedes Recht, einen öffentlich zugänglichen Roman nach allen Regeln der Kunst zu vernichten. Die strategische Vermischung der Herausgeber- mit der Kritiker-Rolle in einem "Offenen Brief" ist ein Vorgang, der die Regeln des Anstands verletzt - er lässt sich mit den Mängeln des Romans von Walser nicht verrechnen. Aber es war ein beispielgebender Schachzug: seither wird in deutschen Redaktionen wieder laut und unbedenklich darüber nachgedacht, wie man die Publikation eines Romans am besten verhindern kann. Viele Kritiker haben dann auch noch Walser und Möllemann miteinander verrührt, als gäbe es da ein Syndrom, das sich unter einem Begriff zusammenfassen ließe.

Peter Michalzik, Ursula März, Thomas Steinfeld und wenige andere haben differenzierte Analysen zur Sache geschrieben. Im Gros der Presse aber triumphiert die Breitmäuligkeit über das Unterscheidungsvermögen; die Kritik ist beschädigt.