Heinrich Manns Bleistiftgebiet

Die unbekannten Zeichnungen aus den USA

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das umfangreiche Konvolut mit 396 Zeichnungen Heinrich Manns, die sich im Nachlass Marta Feuchtwangers fanden, bietet mehr als "dicke nackte Frauen", wie Thomas Mann einmal zu Zeichnungen seines Bruders meinte, und doch bietet es diese auf sehr vielen der Blätter. Natürlich wusste man schon lange zuvor, dass Heinrich Mann zeitlebens gezeichnet hatte, doch das meiste muss als verloren gelten. Einen repräsentativen Überblick gibt auch die Auswahl der vor kurzem veröffentlichten Zeichnungen nicht, denn sie entstanden alle im amerikanischen Exil, etwa von 1940 an. Dennoch gewähren sie tiefen Einblick nicht nur in die bildkünstlerischen Möglichkeiten, sondern mehr noch in Verbindungen von literarischen Projekten und zeichnerischer Begleitung sowie die psychischen Bedingungen des Autors im Exil.

Heinrich Manns amerikanische Jahre bedeuteten für ihn sowohl einen persönlichen wie finanziellen Rückschritt, dazu auch einen in puncto Repräsentanz und Ruhm. In Frankreich galt er ohne Frage als König des Exils, seine Bücher und Essays fanden weite Beachtung, seine Rednergabe trug ihm viele Einladungen ein. In den USA fühlte er sich nie heimisch, die Sprache lernte er kaum, Arbeit gab es wenig und wenn, dann solche, deren Almosencharakter unverkennbar war, wie bei Warner Brothers: Keine seiner Drehbuchideen wurde berücksichtigt, seine Anstellung dort endete nach einem Jahr. Allerdings hatte sich Heinrich Mann auch nie, wie beispielsweise Friedrich Hollaender - der freilich jünger war -, bemüht, die Spezifika der Kultur in den USA zu ergründen. So wurde er bald abhängig von der Unterstützung des Bruders, der dortzulande der Repräsentant der deutschen Emigranten war. Seine Frau Nelly Mann musste einfache Arbeiten annehmen, um den Lebensunterhalt zu sichern, doch auch sie geriet immer tiefer in Depressionen, unternahm weitere Selbstmordversuche, verursachte unter Alkohol mehrere Unfälle und nahm sich schließlich 1944 das Leben. Dass Heinrich Mann weiterhin kreativ arbeiten konnte, kann als kleines Wunder gelten. Dabei isolierte er sich zusätzlich - denn zuvor empfing er schon wenige Besuche - von der Emigrantenszene, lebte allein, nur versorgt von einer "Nurse" und ab und zu von seiner Schwägerin Katia Mann. Obwohl kein Verleger ein Werk von ihm in den USA publizierte, beendete er dort vier große Werke: "Lidice", "Ein Zeitalter wird besichtigt", "Empfang bei der Welt" und "Der Atem". Dazu kamen noch Arbeiten am Projekt über Friedrich II. von Preußen. Mehrfache Einladungen in den Ostteil Deutschlands beschied Heinrich Mann abschlägig, u. a. weil er nicht allein dorthin zurückkehren wollte, wo er mit seiner Frau gelebt hatte.

Diese Situation bildet den Hintergrund zu dem zeichnerischen Werk, das in hervorragender Druckqualität vom Steidl-Verlag vorgelegt wurde. Der Begriff "Werk" und der mehrfach erwähnte Vergleich der Zeichnungen Manns mit dem Stil der Frühen Moderne könnten leicht auf eine falsche Fährte locken. So sensationell der Fund für die Heinrich-Mann-Philologie ist, so wenig aufregend ist er es für die Kunstgeschichte, wie Herausgeber und Kommentatoren klarstellen: "War Heinrich Mann eine künstlerische Doppelbegabung? Diese Frage stellt sich nicht nur angesichts der knapp vierhundert Zeichnungen, die neu entdeckt worden sind. Denn man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß dies nicht der gesamte Bestand ist [...]. Überblickt man dieses Korpus von Zeichnungen und Malereien, dann kann das ehrliche Resümee nur lauten: Nein! Heinrich Mann war keine künstlerische Doppelbegabung! Dazu war sein handwerkliches Können zu gering." In seinem ausführlichen Begleitessay führt Hans Wisskirchen allerdings weiter aus: "Das Spätwerk Heinrich Manns ist von ihm ab 1940 konsequent zeichnerisch begleitet worden. Und hier liegt auch der entscheidende Werkrang der Zeichnungen begründet. Sie bilden gleichsam einen künstlerischen Vorhof der literarischen Werke." Natürlich können der von Volker Skierka herausgegebene opulente Bildband sowie die Aufsätze von ihm, Wisskirchen und Marje Schuetze-Coburn für die Forschung neben der liebevollen und akribischen Bereitstellung des Materials nur erste, gleichwohl wichtige Anregungen geben, beispielsweise zu der Zeichnung des Faschismus, die ohne Beachtung der Begleitumstände verharmlosend, unangemessen oder grotesk wirken könnte.

Neben Mann wiesen auch Brecht, Chaplin und Lubitsch darauf hin, dass Hitler und der Nationalsozialismus lächerlich gemacht werden müssen, um sie ihrer Faszination zu berauben, ihnen das Bedeutende und Große zu nehmen. So können die Zeichnungen "Die Anfänge eines Führers", die Hitler als perlenstehlenden Hoteldieb zeigt und "Das Ende eines Führers", die ihn in einem "Drug-Store" als verkrachte Existenz vorführt, in der Funktion privater Bannung besser verstanden werden. Die grotesken Nazi-Figuren in dem Zyklus "GREUELMÄRCHEN" stehen dabei nicht allein, sie werden flankiert von satirischen Szenen wie z. B. "Verknappung in der Textilbranche": Auf der Straße steht - inmitten von bürgerlich gekleideten Gaffern - eine typische Heinrich-Mann-Frau, also große Brüste, Bauch und kräftige Schenkel, nackt da; Schuhe und Hütchen sowie eine Handtasche unterstreichen die Blöße noch. Ein Polizist mit Schlagstock im Hintergrund geht von der Gruppe weg. Es gibt aber auch Zeichnungen wie "Menschenschlächterei", die als Übertragung des Swift'schen "Vorschlags zur Güte" in die Nazizeit wirken, oder das "Urteil des Volksgerichts", wo gutbürgerliche Kreise sich von einer Hinrichtung durch das Beil unterhalten lassen.

Bei "Hitlermaedel Hilda" halten sich Satire und Moritat die Waage. Schon das erste Bild weist darauf hin, dass hier kein glückliches Schicksal zu betrachten sein wird: Fröhlich winkt die Hitlermädelschar, fröhlich winkt rechts hinten vom Balkon eine Frau, zufrieden grinst links ein Uniformierter mit der Zigarette im Mund, derweil sein Kollege einen Halbnackten mit dem Totschläger den Kopf blutig schlägt. Vier andere Gefangene warten auf ihre Bestrafung, einer zeigt auf der Brust Tätowierungen: Hammer und Sichel sowie ein Herz mit Pfeil. Die flehentliche Geste des einen Gefangenen zu ihnen hin beeindruckt die Gruppe der Hitlermädel genauso wenig wie das Prügeln der NS-Schergen. Warum aber sind bei dieser NS-Szene und allen folgenden die zahlreichen Hakenkreuze auf den Uniformen nicht korrekt gezeichnet? Es wirkt, als wollte Heinrich Mann diesen Symbolen nicht die Ehre antun, sie richtig wiederzugeben; dafür spricht auch, dass eines auf dem Hintern von einem Hitlermädel prangt. Die Gruppe Gefangener erweist sich als Zwangsarbeiter, da man einen Steinhaufen mit Werkzeug links unten sieht. Dass sich bürgerliche (Haus mit Garten und Balkon) und nationalsozialistische Idylle (Gefangenequälen) offensichtlich gut vertragen, zeigt das Blatt überdeutlich. Überdeutlichkeit der Karikatur, es sei noch einmal betont, scheint für Heinrich Mann etwas persönlich Befreiendes zu haben, es geht hier nur sehr am Rande um Politik oder gar Analyse. Im Zentrum steht der satirisch-vernichtende Blick, beispielsweise auf den innerlich abgestorbenen Bürger wie in "Die überlebte Generation": Im Wohnzimmer mit Butzenscheibe, Wilhelm II.-Bild und mächtigem Tisch befindet sich ein ältliches Paar, das mit dem Leben abgeschlossen zu haben scheint. Der Mann steht und zeigt wie verwundert auf die Krankenschwester mit verdrehtem Hakenkreuz auf der Haube, die ein kleines Kind hält. Die sitzende Frau mit Dutt lächelt zahn- und gedankenlos. Mit dem neuen Leben können beide offensichtlich nichts anfangen.

So verlässlich und profund die Kommentare und Aufsätze sonst sind, geraten sie bezüglich des Zyklus "GREUELMÄRCHEN" und der zweiten NS-Bilderfolge "Hitlermaedel Hilda" zuweilen etwas spekulativ und/oder ungenau, wenn es z. B. zu Bild Nr. 69 mit dem Titel "FRUCHTBARE ARBEIT" heißt: "Ein Nazioffizier turtelt mit einem Mädchen der Hitlerjugend". Wenn ein Mann einer Frau, die unten herum nackt ist, an die Brüste fasst, hat das mit "turteln" nicht mehr viel zu tun. Doch das sind - zumal der Leser und Betrachter die Dinge ja selbst überprüfen kann - Kleinigkeiten, die eher die mehrfach erwähnte Notwendigkeit weiterer Forschung unterstreichen.

Ein wichtiger Aspekt wäre dabei der des gnadenlos Voyeuristischen, der sich nicht nur in den "GREUELMÄRCHEN", sondern auch in vielen anderen Zyklen und Einzelbildern findet. So gibt es eine "Susanna im Bade" mit den drei Greisen, aber auch eine "PHÉDRE", doch auch sonst fehlt es selten an lustvoll-ängstlichen Betrachtern im Bild.

Neben den NS-Zyklen präsentiert der Band einen Voltaire-Zyklus mit dem Titel "Crocheteur borgne", der sich Manns ausführlicher Voltaire-Lektüre verdankt. Was man hier sieht, zeugt von Unbekümmertheit und Freude an den eigenen Einfällen, so z. B. wenn im fünften Bild der einäugige Lastträger die Prinzessin geleitet, deren rechtes Bein gummiartig nach oben gebogen ist. Im Hintergrund sitzt eine Art Eichhörnchen auf dem Baum (oder eine Art Hyäne? Ein Hund?) und beobachtet voyeurhaft die Szene; selbst der kleine dicke Vogel schaut gespannt. Auf dem neunten Blatt wird das angezogene Traumpaar von nackten Dienern und Dienerinnen bedient, wieder scheint der Schweinekopf auf der Platte interessiert zuzusehen. Heinrich Mann skizzierte hier nicht nur, er bemühte sich um Plastizität durch Schraffuren, hatte Freude am detailreichen Abbilden von Kleidung, Interieurs, Architektur und versuchte, sich an schwierigen Körperhaltungen wie einer Vergewaltigung oder einem Jungen, der auf den Händen läuft.

Bewegung, ja Dynamik, Dramatik und Figurenreichtum prägen viele Zeichnungen, ob zu "Manon Lescaut" oder zu "Fédéric", die seine Arbeit an einem Werk über Friedich II. von Preußen begleiten. Diese Charakteristika herrschen auch in dem titellosen Zyklus zu Opernszenen sowie in den Varietébildern vor.

Fast überall in den politischen, literarischen, allgemein menschlichen Zeichnungen mischt die Sexualität mit. Schon Thomas Mann hatte sehr früh erkannt, dass dies das Thema war, das sie vereinte, dessen Darstellung und Einschätzung sie aber trennte. Er schrieb in einem frühen Brief an Heinrich Mann geradezu angeekelt: "Diese schlaffe Brunst in Permanenz, dieser fortwährende Fleischgeruch ermüden, widern an. Es ist zu viel, zu viel 'Schenkel', 'Brüste', 'Lende', 'Wade', 'Fleisch' und man begreift nicht, wie Du jeden Vormittag wieder davon anfangen mochtest, nachdem doch gestern bereits ein normaler, ein tribadischer und ein Päderasten-Aktus stattgefunden hatte." Hans Wisskirchen stellt klar, dass Heinrich Mann nicht einfach vom Sexuellen an sich fasziniert oder gar geblendet war, vielmehr verknüpfte er in seinem künstlerischen Werk Sexualität, Kunst und Politik miteinander. Dass Frauen hier häufig triumphieren, Männer schwächlich dargestellt werden und kapitulieren wie Herodes in der Salomé-Szene, liegt daran, so Wisskirchen, dass Mann die "Sexualität der Feinde" zeige: "Es ist die Männerwelt des 'Untertan', die in den Zeichnungen aufscheint. Wo es darauf ankommt, ist der Mann immer der Schwächere". Trotzdem wird die starke Frau - physisch wie psychisch - so oft und immer wieder positiv dargestellt, dass diese Erklärung noch nicht die ganze Wahrheit sein kann. Wiederum tut sich für die Forschung ein weites Feld auf.

Seine unübersehbare Begeisterung für nackte Rubensfrauen gehört auch dazu. Sie treten überall auf, fast stets mit halb- oder ganzentblößten Brüsten, selbstbewusst, stark und beweglich. Vor allem in den wilden "Varieté"-Szenen, wo Mann wiederum lustig die Gesetzte der Perspektive und Wahrscheinlichkeit mißachtet, auf die es ihm nicht ankommt! Vielmehr sind es die Körper und ihre Wirkung, Schwere, Kraft, vor allem der Frauen, die ihn interessieren, häufig wird deren Wirkung noch in der Zusammenballung gesteigert. So auf einem Bild, auf dem drei Frauen auf die Bühne sehen, auf der fünf nackte Frauen eine Pyramide bilden, die gleichzeitig ein Clown von hinten beobachtet.

Offensichtlich beschränkt sich Heinrich Manns Zeichen-Kunst darauf, Bilder zu fixieren, die ihm Anregung sein konnten. Die Gesichter wirken oft sehr ungekonnt (wie die Frau auf dem Blatt "LE ROI CANDAULES", die wie ein Mann aussieht). Pistolen gelangen ihm auch nie, vons einer Perspektive-Schwäche ganz zu schweigen. Allerdings besaß Mann eine reiche und im besten Sinne ungehemmte Erfindungsgabe, die sich um technische oder andere Beschränkungen wenig scherte. Genauso positiv wirkt sein zeichnerischer Witz, der beispielsweise einen Faunbrunnen festhält, bei dem der Wasserstrahl aus dem erigierten Penis des sitzenden Satyrs steigt. Zuletzt gibt es autobiografische Spuren, so etwa ein Porträt seiner Frau Nelly auf dem Blatt "Coucou" oder eine Selbstdarstellung in der Gruppe der "Hommes de Lettres".

Außer den NS-Zyklen spielen übrigens die meisten Bilder in einer literarisch-musikalischen Welt oder in der Zeit des ausgehenden Bürgertums um 1900, als begebe sich der einsame Heinrich Mann mit seinem Bleistift dorthin, wohin er in persona nicht mehr gelangen konnte.

Titelbild

Volker Skierka (Hg.): Liebschaften und Greuelmärchen. Die unbekannten Zeichnungen von Heinrich Mann.
Steidl Verlag, Göttingen 2001.
352 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3882437871

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