Geniestreich einer Generation

Boris von Brauchitsch auf den Spuren eines Tausendsassas der Renaissance

Von Viola HardamRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viola Hardam

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer war Leon Battista Alberti? Der Erzählung nach wurde Alberti "in der Verbannung geboren, [...] lernte in Padua, brach in Bologna ein Jurastudium ab, studierte Philosophie, Theologie und Mathematik, wurde Geistlicher, bereiste Frankreich, Deutschland und fast ganz Italien, war Diplomat, stand in den Diensten von mindestens vier Päpsten, verfaßte ein gutes Dutzend wissenschaftlicher, philosophischer und kunsttheoretischer Schriften, war Maler, päpstlicher Sekretär, Architekt, Musiker, Komponist, Astrologe, Geometer, Mathematiker, Jurist und Dichter. Schließlich besaß er übersinnliche Fähigkeiten und fast übermenschliche Kräfte, war im Reiten und an den Waffen ausgebildet und in der Lage, mit geschlossenen Füßen über die Schulter eines Mannes zu springen." So ist es zumindest bis heute überliefert. In Wirklichkeit aber habe es diesen Tausendsassa nie gegeben, behauptet nun Boris von Brauchitsch in seinem Essay "Das Ei des Brunelleschi".

Leon Battista Alberti sei die utopische Vision eines "uomo universale", einer umfassend gebildeten Künstler- und Gelehrtenpersönlichkeit gewesen, "ein Sportler-Philosoph und Künstler-Diplomat mit bewegtem Werdegang", erschaffen von einer Gruppe von Künstlern im 15. Jahrhundert. Mit einer erfundenen "vita anonima" sei es den Renaissance-Humanisten, unter deren bekanntesten Namen der des Architekten des Florentiner Doms, Filippo Brunelleschi, zu finden ist (dessen "Ei-Anekdote" auch der Titel des Buches zu verdanken ist), gelungen, dem gerade "geborenen" Theoretiker Alberti Fleisch zu verleihen. "Daß hierbei aus dem Traktatisten, der aus der Sicht des Malers schrieb nahezu alles von Jurist bis Geistlichem wurde, nur kein Maler, scheint für Brunelleschi und seinen Kreis offenbar nicht weiter von Bedeutung. Die universelle Begabung machte letztlich alles möglich." Dass den Zeitgenossen hierbei der eine oder andere Schönheitsfehler in der Vita unterlief, dürfte ihnen selber nicht aufgefallen sein, so Brauchitsch.

Alberti entwickelte sich, will man Brauchitsch Glauben schenken, zunehmend zu einer Art Gesellschaftsspiel. Unter seinem Namen erschienen Schriften verschiedenster Abhandlungen: Über die Liebe, wie man sie pflegt und wieder aufgibt, über die Vor- und Nachteile der Schriftstellerei an sich, über das Hauswesen, ... Er schien das Genie des Jahrhunderts zu werden. Doch gerade weil der Alberti-Komplex an Beliebtheit zunahm, fing der Kreis um Brunelleschi an, die Kontrolle über ihren Schützling zu verlieren. "Man war sich der Brisanz der Situation bewußt - Alberti war inzwischen zur anerkannten Autorität avanciert - und nahm daher Brunelleschis Tod 1446 zum Anlaß, die Figur Alberti ruhen zu lassen. [...] Alberti zog sich zurück. Eine Utopie schien begraben." Um so verstörter muss der Kreis gewesen sein, als Alberti wenige Monate später als Architekt in Rom auftauchte. Die "Auferstehung Albertis" rief nicht bei allen Begeisterung aus. Der erste Versuch, Alberti sterben zu lassen, war damit gescheitert, die Künstler überfordert. Wie konnte man ein Phantom wieder sterben lassen? Noch dazu eines, welches mittlerweile in hohem Ansehen des Papstes stand?

In einer kurzen amüsanten Erzählung schildert Boris von Brauchitsch, selbst Kunstkenner und Herausgeber verschiedener Schriften zur Kunst der Renaissance, die mysteriöse Erschaffung eines "Idealbilds des uomo universale. Eine imaginäre Vollkommenheit mit utopischem Charakter, eine literarische Heldenfigur" und das Problem, diese wieder sterben zu lassen. Ein Buch wie ein Vexierspiel - sowohl für Kunstgeschichtler wie für Italienbegeisterte.

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Boris von Brauchitsch: Das Ei des Brunelleschi.
Verlag Christian Rohr, München 1999.
48 Seiten,
ISBN-10: 3926602171

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