Von Wissensmaschinen, magischen Apparaten und Sex-Tummelplätzen

Ein Sammelband untersucht "Gedächtnismedien im Computerzeitalter"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ovids "Metamorphosen" lesen sich, so könnte man sagen, als eine 'Grammatologie' der alten Welt. Was sich bei Derrida als die Dekonstruktion aller logozentrischen Bedeutungen, des hermeneutischen Sinnhorizontes, erweist, ist in dem die Logik verabschiedenden Verwandlungsspiel Ovids präfiguriert. Gibt Ovid die Unerreichbarkeit jeden Anfangs und damit jeder Hierarchie dadurch zu verstehen, dass alle Anfänge aitiologische Geschichten sind und damit auch schon ihre Geschichte habe, mithin kein Anfang sind, so steht Derridas Auseinandersetzung mit dem abendländischen 'Phonozentrismus' unter dem Vorzeichen, dass es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge, dass die von Rousseau und Saussure beklagte Usurpation der Sprache durch die Schrift schon immer begonnen hat.

Zweifelsohne haben Medientheoretiker in den letzten Jahren eine fast ovidische Metaphorik entwickelt, um die unmerklich vor sich gehende Umformung des Menschen des digitalen Zeitalters zu charakterisieren. Die Referenz des hier anzuzeigenden Sammelbandes "Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter" auf den Ovidschen Prätext kann, wie Götz-Lothar Darsow in seiner Einleitung hervorhebt, vor exakt diesem Hintergrund verstanden werden: "Wenn nämlich Veränderungen diagnostiziert und diskutiert werden, denen Aufbewahren und Sammeln, Archiv und Museum, Gedächtnis und Erinnerung durch die rasanten Entwicklungsschübe der Computertechnologie ausgesetzt sind, dann gilt es einerseits anthropologische Folgen und andererseits institutionellen und begrifflichen Verschiebungen nachzufragen oder vorzudenken." In den Diskussionen um die so genannten 'neuen' Medien findet sich immer wieder der Computer als neue Gedächtnismetapher, der die bisherigen Zentralmetaphern des abendländischen Nachdenkens über Erinnerung und Gedächtnis, Wachstafel und Magazin, abzulösen scheint. Bisher ist das Gedächtnis vorwiegend in seinen Mechanismen erforscht worden, d. h. in den Gesetzmäßigkeiten des Erinnerns und Vergessens. Auch die neuesten Beiträge zum Problem des Gedächtnisses gehen auf diesen Wegen weiter, wie die Gehirnforschung, die die neuronalen Gesetze der Synapsenbildung untersucht, oder die Traumaforschung, die sich mit Einprägungen von Gewalt zwischen Erinnern und Vergessen befasst, zeigen. Der vorliegende Band verlagert den Schwerpunkt des Interesses von den Mechanismen auf die Medien des Gedächtnisses, zumal sich am Ende des Druckzeitalters die Frage nach dem Zusammenwirken von Gedächtnis, Medien und Technikgeschichte mit neuer Dringlichkeit stellt. Gibt es latente Entsprechungen zwischen vorgutenbergischen und nachgutenbergischen Gedächtnismedien? Bestehen Affinitäten zwischen den Gedächtnisinszenierungen der Renaissance und der elektronischen Wissensorganisation und -präsentation des PC? Ist der Hypertext als ein neues Textmodell auch ein neues Gedächtnismodell?

Vor diesem Hintergrund verfolgt der Band im Besonderen zwei Ziele. Zum einen wird versucht, die Frage nach dem Erinnern an die gegenwärtige Diskussion um die 'neuen' Medien anzuschließen. Die digitale Revolution des 20. Jahrhunderts hat mit der Bereitstellung unendlicher Speicherkapazitäten dafür gesorgt, dass überlieferte Vorstellungen von Gedächtnis und Erinnerung revidiert werden müssen. Es geht dabei um die Frage "nach dem Neuen und den Veränderungen, die der vollzogene Eintritt ins Computerzeitalter an den traditionellen Medien selbst bewirkt". In den einzelnen Beiträgen werden diese Wandlungen nicht nur in kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektiven beleuchtet, sondern es werden auch die "Veränderungen des Gedächtnismediums Kunstwerk und seines traditionellen Aufbewahrungsortes, des Archivs bzw. des Museums", untersucht. Damit ist auch das zweite Ziel des Bandes benannt: es wird der Versuch unternommen, die aktuelle Diskussion um die 'neuen' Medien um einige Facetten ihrer historischen Dimension zu erweitern. Den langen Kontinuitätslinien in der Geschichte der Gedächtnismedien, die sich bis in die Renaissance und in die Antike zurückverfolgen lassen, stehen oft Entwicklungssprünge und abgebrochene Möglichkeiten gegenüber, die oft erst nach Jahrhunderten wieder aufgegriffen werden. Daher scheint die Frage "nach den Potentialen der Beharrung, Wiederholung, ja auch der Regression, welche an der anscheinend alles revolutionierenden Medienschwelle zu diagnostizieren wären", von erheblicher Bedeutung. Gegen diesen Hintergrund einer nicht immer geradlinig verlaufenden Geschichte erweist sich vieles von dem, was heute an den 'neuen' Medien als neu erscheint, als Wiederaufnahme früherer Entwicklungen bzw. Entwicklungsmöglichkeiten. Die Aufgabe, die sich angesichts dessen für die Erarbeitung einer historischen Anthropologie der Medien stellt, ist vor allem dort hochaktuell und drängend, wo die utopischen Implikationen von Internet, Hypertext und Cyberspace, mit der düsteren Kehrseite einer Kultur, die sich an nichts mehr erinnert und erinnern will, verrechnet werden. Wenn sich mit den 'neuen' Medien ein entscheidender Wandel ereignet hat und der digitale Speicher zur neuen Leitmetapher des Gedächtnisdiskurses wird, dann ist damit auch eine Generalisierung dieser Metapher über die Hard- und Software des Computers hinaus angezeigt. Die Frage stellt sich, ob die neuen technischen Möglichkeiten es erlauben, 'alte' Gedächtnismedien nun anders zu denken - oder ob umgekehrt die 'neuen' Medien als bloße Fortführung von bisher unreflektierten Implikationen der 'alten' Medien erscheinen.

Momente dieser gegeneinander strebenden Bewegungsrichtungen, dieser divergierenden Geschwindigkeiten bestimmen den einleitenden Beitrag Hartmut Böhmes, der von einer inkommensurablen Wissensbeschleunigung ausgeht, mit der sich der Mensch im Allgemeinen und der Künstler und Wissenschaftler im Besonderen auseinanderzusetzen hat. Unter Verweis auf Platons Dialektik im "Höhlengleichnis" bestimmt Böhme das "Doppelgesicht der Moderne": "Die Zivilisation folgt darin einer doppelten Matrix des Begehrens und des Zwangs: Sie muß dem entkommen, was sie begehrt; und in dem, wohin sie entkommt, stellt sie das Begehrte, metaphorisiert wieder her. Cyberspace nun ist die zivilisationsgeschichtlich am höchsten entwickelte Bewußtseinsform, gleichsam reines Licht und reine Freiheit; im technisch Virtuellen ist alles selbstidentisch, gewissermaßen eine schattenlose Welt aus nichts als Licht. Und doch: Cyberspace reproduziert zugleich die Höhle, die Höhle als Welt und die Welt als Höhle, in der alles nichts als Schattenspiel ist. [...] Cyberspace dehnt die Höhlengrenze ins Infinite und beruft dennoch dabei das kleinformatig Umhüllende: Dieses Ineinander von Fortschritt und Wiederholungszauber ist im Schlagwort vom global village auf die klassische Formel gebracht." In diesem Zusammenhang spricht Böhme zurecht davon, dass das Neue und das Uralte "einen vertrackten Synkretismus der Zeiten" erzeugen: "Diese vertrackte Dialektik auszuarbeiten: wie im Allerneuesten das Archaische sich wiederholt - die Figur der Wiederholung, diese geheime Verzauberung der Zukunft durch die Geschichte zu verstehen - : Das wäre eine angemessene Aufgabe einer Zeit gegenüber, deren fortreißender Charakter bislang verhindert, ihrer Wahrheit ansichtig zu werden. In dieser Weise ist jede gegebene Kultur insbesondere in Schwellenzeiten eine Interferenz der Zeiten, ein Durchschuß des präsentischen Bewußtseins mit zumeist unbewußten Wiederholungen - und das heißt kulturtheoretisch: Jede Kultur ist synkretistisch. Und es scheint, daß die gegenwärtige Schwellenzeit in besondere Weise synkretistisch funktioniert." Daher ist es nahe liegend, Cyberspace gleichzeitig in einem esoterischen Sinn als vielfältige und permanente Wieder-Holung kulturell alter, vor allem magisch-fetischistischer, mythischer, religiöser und metaphysischer Muster zu beschreiben, gleichzeitig ist Cyberspace aber auch in exoterischer Hinsicht ein "ubiquitäres Archiv, ein Verkehrsmittel von Zeichen aller Art, ein Kommunikationsmedium, eine Wissensmaschine, ein Entertainment- und Sex-Tummelplatz, ein ideales Theater für multiple Persönlichkeiten und ein optimales Instrument szientifischer Globalisierung."

Bei dem Problem der Verkümmerung von Erinnerung und der Frage nach den Folgen der Exteriorisierung und Emanzipation des Gedächtnisses von den Sinnen und dem Körper ist es nicht verwunderlich, wenn die Menschen im digitalen Zeitalter auf diese immens verstärkte Bedrohung durch schier unendliche Speicherkapazitäten mit extremer Heftigkeit reagieren. Hannes Böhringer diskutiert diese Erschütterungen in Hinsicht auf Erinnern und Vergessen am Beispiel der kontrovers geführten Debatte über die Möglichkeiten eines Berliner Holocaust-Mahnmals, in der vor allem der Kampf der Gedächtnismedien zu beobachten sei: "Stein gegen Papier, Papier gegen Silikon, Architektur gegen das Buch, Wissenschaft gegen Kunst, Geschichte gegen das Leben, die modernen Museen gegen die moderne Kunst und umgekehrt." In dieser Auseinandersetzung wird zweifelsohne auch die extreme Verunsicherung darüber lesbar, inwiefern tradierte Formen des Gedächtnisses auch jenseits der gegenwärtigen Medienschwelle noch zur Erinnerung befähigen können. Die technologischen Veränderungen bewirken somit neben einem tief greifenden sozialen auch und gerade einen kulturellen Wandel, wie Darsow in seiner Einleitung zu Recht unterstreicht. Damit werden Cyberspace und Internet als Träger und Vermittler der aktuellen Wissensrevolution aber auch mehr und mehr zum Zentrum gesellschaftlichen Bewusstseins. In diesem Sinne verändert nicht nur das Schreiben, das linearisierte Wissen, von Grund auf seine Qualität, sondern auch die Kunst, indem sie sich mit den neuen Medien auseinanderzusetzen hat, wie der Beitrag von Oliver Grau über die Werke der so genannten 'virtuellen Realität' zeigt. Zugleich werden im Gefolge des Medienwandels auch deren Aufbewahrungsorte, die Archive und Museen, von den Veränderungen erfasst.

Karlheinz Barck erinnert in seinem Beitrag ("Gedächtnis und ästhetische Reflexion") zu Recht an Derridas Vorstellung einer politique de la mémoire und damit an die Frage nach der Verfügbarkeit und Kontrolle über das Gedächtnis und die Gedächtnismedien, die der französische Philosoph mit der Forderung nach Demokratisierung des Zugangs zu den Archiven verbunden hat. In seinem Buch "Mal d'archive", das den doppelten Genitiv als Übel und Sehnsucht thematisiert, schreibt Derrida: "Nul pouvoir politique sans controle de l'archive, sinion de la mémoire". Die Desaster, die das Ende des Millenniums markieren, sind nach Derrida "archives du mal": verheimlichte oder zerstörte, verbotene, abgelenkte, 'verdrängte'. Ihnen ist im Verlauf von Bürgerkriegen und internationalen Kriegen, von privaten oder geheimen Manipulationen eine zugleich massive und raffinierte Behandlung widerfahren. Niemals verzichtet man darauf, sich eine Macht über das Dokument, über seinen Besitz, seine Zurückhaltung oder seine Auslegung anzueignen. Auch die Beiträge von Wolfgang Ernst ("Archivbilder") und Hans Ulrich Reck ("Metamorphosen der Archive/Probleme digitaler Erinnerung") widmen sich der Frage nach den Archiven, die - nach Darsow - "in ganz divergierenden Ausprägungen immer wieder jenes Spannungsfeld virulent werden lassen, das im Paradox Erinnerung der Zukunft seine vielleicht treffendste und zugleich provozierendste Formulierung finden könnte". Wie sich das Verhältnis von Tradition und neuen Herausforderungen institutionell manifestiert, diskutieren die Beiträge von Stefan Grohé, der sich mit den Folgen befasst, die sich durch die neuen Medien für das Selbstverständnis der Museen und ihre Funktionsmechanismen ergeben, Ulrich Krempel ("Das Museum als Pharaonengrab") und Jean-Christophe Ammann ("Das Museum als Zeitspeicher").

In der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Medientheorien weisen die Beiträger des Sammelbandes an den sich auf den Computer beziehenden Phantasmen einen neuen Platonismus auf: Insofern sich alles nur noch im 'Netz' abspielt, gerät die Differenz von Innen und Außen völlig aus dem Blick bzw. soll das 'Außen' einmal mehr als unerheblich vergessen gemacht werden. In Aussicht gestellt wird die Einheit eines vollständigen und vollständig verfügbaren Gedächtnisses, womit die Diskussion der 'Medialität' jedoch gerade um ihr kritisches Potential gebracht wird. In Anlehnung an Derridas Lektüre des platonischen "Phaidros" weisen die Mehrzahl der Beiträger nach, dass diese 'neue' Taktik des totalen Einschlusses - alles ist im Netz - keineswegs aufgeht. Es bleibt ein 'Außen' - und damit auch ein Vergessen. Gegen das Vergessen dieses Vergessens zu argumentieren und damit auch die Phantasie eines umfassenden und damit nur noch selbstbezüglichen Gedächtnisses zu demaskieren, ist der bleibende Verdienst dieses Sammelbandes.

Titelbild

Götz-Lothar Darsow (Hg.): Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2000.
250 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3772820018
ISBN-13: 9783772820014

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