Die Öffentlichkeit der Literatur

Otto Lorenz analysiert den kulturellen Diskurs der westdeutschen Nachkriegsliteratur

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegende Habilitationsschrift des Göttinger Literaturwissenschaftlers Otto Lorenz präsentiert einen methodischen Entwurf zur Integration sozialgeschichtlicher und systemtheoretischer Perspektiven in die Analyse literarischer Werke und ihrer Kontexte. Mittels dieses methodenpluralistischen Konzepts versucht Lorenz, die kommunikativen Rahmenbedingungen für die literarische Produktion und Distribution im gesamten kulturellen Diskurs der westdeutschen Nachkriegsliteratur von 1945 bis 1989 zu erhellen. Anhand von drei Fallstudien zu Wolfgang Koeppen, Peter Handke und dem Sachbuchautor Horst-Eberhard Richter zeichnet Lorenz exemplarisch wesentliche Verlaufsformen des literarischen Lebens in der Bundesrepublik präzise nach.

Mithin liegt das Augenmerk dieser Studie sowohl auf dem komplexen Zusammenspiel der Akteure des literarischen Betriebs, also auf Autoren, Lesern, Kritikern und Verlegern, als auch auf den zeit- und mentalitätsgeschichtlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen, die das gesellschaftliche Teilsystem der Literatur wenn auch nicht bestimmten, so doch zumindest wesentlich beeinflussten.

In einer umfassenden Analyse der verlags- und autorseitigen Publikationsstrategien, der Verteilung von Literaturpreisen sowie der Reaktionen der Literaturkritik gelingt es Lorenz, auf die zunehmende weltanschauliche Hegemonie der nonkonformistischen Literatur nach 1945 aufmerksam zu machen. Wenn die Haltung des Dagegenseins auch nicht von merkantilem Erfolg belohnt wurde, so erntete sie doch zumindest reichlich symbolisches Kapital. Offensichtlich wurde, wie Lorenz plausibel machen kann, von den Autoren der direkten Nachkriegszeit geradezu erwartet, dass sie gegen die Erwartungen verstießen und sich kritisch-subversiv mit der moralischen Verfasstheit der postfaschistischen Mentalität in der jungen Bundesrepublik auseinander setzten.

So ergab sich die paradoxe Situation, dass gerade die heftige Opposition gegen das grundlegende Selbstverständnis der restaurativen Bundesrepublik bald zur erfolgsträchtigen "Selbstbehauptungs- und Selbstvermarktungsstrategie" avancierte. Als die vielfach formulierten, zentralen Forderungen an die kritische Literatur benennt Lorenz dabei: die Erinnerungsarbeit aufzunehmen, eine radikale Ideologieskepsis, die Stärkung der Kritikfähigkeit der Leser am Status Quo, die Besetzung nonkonformistischer Positionen und schließlich den Anspruch, den Anschluss an die literarische Moderne herzustellen. Diese Forderung nach einer strikten Außenseiterhaltung nutzten Autoren wie Böll, Grass oder Enzensberger in durchaus unterschiedlichen Konturierungen sehr erfolgreich.

Wolfgang Koeppen erfüllte alle fünf Forderungen, ohne sich allerdings auf dem Buchmarkt durchsetzen zu können. Warum, lautet die naheliegende Frage, hatte also ausgerechnet Koeppen keinen Erfolg, dessen Werke sich doch nachdrücklich auf die Vorgaben des zeit- und vernunftkritischen Diskurses bezogen? Als fast kriminalistische Spurensuche lässt sich nachlesen, wie Lorenz diesen 'Fall Koeppen' zu lösen versucht. Umfassend rekonstruiert er das Feld der literarischen Kommunikation, in dem sich Koeppen mit seinen Romanen zu positionieren versuchte. So analysiert er etwa die Waschzettel und Klappentexte des Henry Goverts Verlages, die poetologischen Selbstreflexionen Koeppens sowie die literarischen Werke selbst, den Erwartungshorizont und die Reaktionen der Literaturkritik und die Wertungen der wissenschaftlichen Studien.

Diese materialreiche Untersuchung ergibt schließlich einen eindeutigen Befund, den eine rein werkorientierte Hermeneutik wohl nicht in den Fokus bekommen hätte: Koeppen habe, so das Fazit von Lorenz, die Leser durch eine poetische Strategie ganz gezielt überfordert, indem er alle an ihn gestellten Erwartungen erfüllte. Nur so konnte er eine Stellung im literarischen Feld besetzten, die seinem Schreibprogramm entsprach: die des konsequenten, gegen jede Form der Macht widerständigen Nonkonformisten, der nicht einmal die Einflussmacht der eben diesen Widerstand artikulierenden Autoren ausnutzte. Hier sei allerdings gefragt, ob die poetologischen Verlautbarungen eines Schriftstellers tatsächlich so eindeutig mit der Intention seiner ästhetischen Werke ineins gesetzt werden können, wie Lorenz dies zumeist tut, oder ob der Blick auf die Eigenbewegung der poetischen Texte nicht vielmehr interessante Widersprüche zutage fördern würde.

Blieb Koeppen zeitlebens bewusst ein Außenseiter des literarischen Betriebs, so wählte Peter Handke demgegenüber eine andere Form der Opposition gegen die dominierenden Bewusstseins- und Machtstrukturen. Für Lorenz repräsentiert Handke den Typus des Rebellen, der sich mittels der kalkulierten Provokation des literarischen Establishments profiliert und so in das Zentrum des Interesses gelangt. Die virtuose Selbstinszenierung Handkes lässt sich beispielhaft an seinem legendären Auftritt auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton zeigen, die ihn schlagartig bekannt machte. In einer kalkulierten Rede warf er den arrivierten Kollegen die "Beschreibungsimpotenz" ihrer "läppischen Prosa" vor und erreichte so unter anderem, kurz darauf im Mittelpunkt eines ausführlichen Spiegel-Artikels zu stehen - über den er sich dann wiederum publicityträchtig mokieren konnte. In der Folgezeit seines spektakulären Auftretens in der literarischen Öffentlichkeit verstand es Handke dann, seine Suche nach neuen poetischen Ausdrucksformen und eigentlich-authentischen Sprachregionen immer wieder mit geschickten Provokationen zu verbinden und sich so das konstante Interesse des Publikums zu sichern, wie Lorenz durch Einbindung des Autors Handke in die diskursiven Tendenzen der Zeit anschaulich machen kann. Zu fragen wäre hier allerdings, ob sich das Werk Handkes tatsächlich allein aus dem kulturellen Diskurs des bundesrepublikanischen Literaturbetriebs verstehen lässt, oder ob nicht vielmehr die Besonderheiten der österreichischen Literaturlandschaft bzw. ihrer Einflüsse auf Handke mit berücksichtigt werden müssten.

Die Sachbücher des Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter schlossen an die bewusstseinskritischen Ansätze der nonkonformistischen Literatur an, ohne deren Tendenz zur Offenheit und Vieldeutigkeit zu teilen. So artikulierte Richter in seinen populärwissenschaftlichen Texten die zunehmende Skepsis vieler gegenüber der Dominanz der instrumentellen Vernunft, die für die Atomkriegsgefahr und die ökologische Bedrohung verantwortlich sei. Gestützt auf seine Autorität als Wissenschaftler, formulierte er klare moralische Standpunkte und entwarf neue Lebensformen, die auf eine große Resonanz des Publikums stießen.

Lorenz arbeitet in seiner beeindruckenden Studie die wesentliche sozialgeschichtliche Rolle des subversiv-kritischen Außenseiters in der westdeutschen Nachkriegsliteratur heraus, der in unterschiedlichen Ausformungen die Dekonstruktion totalitärer Weltbilder betrieben habe und sich gegen die Herrschaft der instrumentelle Vernunft wendete. Die Entwicklung dieser Haltung bezeichnet er schließlich mit fünf ausdrücklich als vorläufig benannten Begriffen: Prolongierung, Poetisierung, Politisierung, Privatisierung und Pluralisierung. Zukünftige Arbeiten zur deutschen Nachkriegsliteratur werden sich sicher mit Gewinn auf die Ergebnisse wie auch auf die Arbeitshypothesen von Lorenz' Habilitationsschrift beziehen können.

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Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrategien: Wolfgang Koeppen, Peter Handke, Horst-Eberhard Richter.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1998.
290 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3484350660

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