Konstanten und Brüche

Ein Hermann-Lenz-Lesebuch aus Glanzstücken

Von Thomas KraftRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kraft

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hermann Lenz fehlt der deutschen Literatur. Mit dem 1998 verstorbenen Erzähler und Romancier ist ihr eine eigenwillige und authentische Stimme verloren gegangen, die spät - auf Einladung Peter Handkes -, aber nicht zu spät gehört wurde. Mit dem nun vorliegenden Band "Die Schlangen haben samstags frei", der vierzig bereits publizierte Erzählungen von 1937 bis 1994 und drei unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass versammelt, wird die Fülle und das Spektrum eines großen Lebenswerkes erkennbar. Der Hermann Lenz seit Jahren aufmerksam begleitende Herausgeber Rainer Moritz ließ sich bei seiner Auswahl offenkundig von dem Bestreben leiten, sowohl die Konstanten wie auch die Variationen und Brüche innerhalb des Lenzschen Kosmos aufscheinen zu lassen. Wie bei jeder Edition verantwortet die subjektive Perspektive des Herausgebers bestimmte Gewichtungen, die diskutabel sind. Aber dies erscheint auch in diesem Fall müßig. Einzig und allein wichtig bleiben die präsentierten Texte, die noch einmal deutlich erkennbar werden lassen, warum Hermann Lenz bei Lesern und Schriftstellerkollegen gleichermaßen große Resonanz zuteil wurde.

Seine Liebe zum Detail und sein beobachtungsintensiver Gestus, der stille, feine Humor, seine poetisch-zarte Sprache mit ihren wunderbaren Verästelungen, die dialektalen Einsprengsel seiner schwäbischen Heimat und die Fürsorglichkeit, die er seinen Figuren entgegenbringt - so kennt und schätzt man die Prosa von Hermann Lenz. Von Lenz sind vor allem die großen Romanfolgen um sein literarisches alter ego Eugen Rapp zur Kenntnis genommen worden. Aber Rainer Moritz weist zurecht daraufhin - und die Sammlung belegt dies auch -, dass Lenz zeitlebens auch kleinere Prosa verfasste. Wie Moritz bemerkt, "waren die Fünfziger ein besonders reiches Erzähljahrzehnt, auch aus wirtschaftlichen Zwängen heraus [...] Was in diesen Jahren gelang, waren Erzählungen wie ,Hotel Memoria', ,Der Käfer' und ,Zu spät', die Lenz' poetologisches Programm konturierten und allmählich sein Zutrauen mehrten, unverstellt autobiographisch zu schreiben." Auch viele der hier versammelten Texte sind dem eigenen Erleben verpflichtet, erzählen von Studienzeiten in München bis hin zur lebenslangen, noch im hohen Alter geäußerten Sehnsucht, eigentlich am liebsten "ein wohlhabender Minnesänger" geworden zu sein. Phantasien und Sehnsuchtsräume sind fester Bestandteil dieses Schreibens, aber auch, im Grunde ganz ungewöhnlich für Lenz, Beobachtungen aus der Arbeitswelt wie in der Titelgeschichte. Doch auch hier fehlen die surrealen und naturmagischen Momente nicht, die für seine Art zu schreiben typisch sind.

Neben zahlreichen verstreut in Zeitschriften erschienenen Texten, die hier erstmals wieder zugänglich gemacht werden, sind es natürlich die drei unveröffentlichten Texte aus dem Nachlass, die Aufmerksamheit auf sich ziehen: "Obere Ziegelei", "Waldeinsamkeit" und "Frau im Wald". So könnten auch die Bilder einer Ausstellung betitelt sein. Erzählt wird von einem Gemeindeschreiber mit einer "Schwäche für Portugal", von dem Unglück einer Frau, die mit ihrem alten Vater durch den Wald läuft, und einer anderen Frau, die ihren Mann im Wald sucht und von einem "Vögelein" sicher geleitet wird. Die Sehnsuchts- und Leidensmotive, die hier die Handlung tragen, korrespondieren mit märchenhaften Formen und romantischen und pantheistischen Haltungen. So ergänzen und runden sie das Lenzsche Weltbild der poetischen Empfindsamkeit ganz natürlich ab, auch wenn sie nicht zu den literarischen Glanzstücken des Bandes gehören.

Besonders aufschlussreich sind die Erzählungen "Schwäbischer Lebenslauf" (1943) und "Ein grüner Hut mit Rebhuhnfeder" (1961), in denen Lenz, kaum verdeckt, seinen Großvater und seinen Vater, mit dem ihn eine problematische Beziehung verband, porträtierte. Hier werden die Erinnerungsmomente seines Schreibens greifbar, hier wurzelt seine lebenslange Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und die quälende Frage nach der eigenen Identität.

Titelbild

Hermann Lenz: Die Schlangen haben samstags frei. Erzählungen.
Herausgegeben von Rainer Moritz.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
303 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3458170995

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