Psychogramm einer Lebenskrise

Der Debütroman "Rosa" von Heike Geißler

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rosa, eine Frau Anfang 20, erlebt eine schwere, fast selbstzerstörerische Krise. Auslöser dafür ist ihre erste Schwangerschaft und die damit verbundenen Veränderungen in ihrem Leben. Dem Muttersein, den Rollenerwartungen und der radikalen Umstellung ihres Lebens ist die junge Frau nicht gewachsen. Sie flüchtet kurz nach der Geburt des Kindes nach Berlin. Der Freund, das Kind und die Oma bleiben zurück.

Die Odyssee der Selbstentfremdung verläuft zwangsweise über den Körper; Rosa kann die Symptome des Mutterseins nicht stoppen und versucht sie mit Gewalt unsichtbar zu machen. So wird der Aufenthalt in Berlin zu einem Balanceakt zwischen dem Aufrechterhalten von Normalität, wozu die Arbeit als Kellnerin gehört, und dem ständigen Zwang, Milch aus den schmerzenden Brüsten zu pressen und Tampons zu wechseln, damit die nachgeburtlichen Blutungen unbemerkt bleiben. Rosa ist mit dieser elementaren Körperlichkeit, die ihr Leben auf eine fast gewalttätige Weise beherrscht, völlig überfordert. Nur langsam löst sich dieses sehr anschaulich beschriebene Ausgeliefertsein an Blut und Milch auf. Die Milch versiegt, die Blutungen werden schwächer und hören schließlich ganz auf. Mit dem Zurücktreten des Körpers wird Rosa von einer Depression überfallen, der sie durch das Entwerfen immer neuer Pseudobiografien entkommen will. Diese hilflose Suche nach alternativem Leben, dem sie gewachsen sein könnte, dient der Krisenabwehr, und Rosa unterwirft sich ihren Inszenierungen gnadenlos. Auch als sie erkennt, wie ausweglos dieses Tun ist, wird dies wieder verdrängt, um nicht erneut in Depressionen abzugleiten. Doch alles Festhalten an Äußerlichkeiten nutzt nichts. Die Flucht führt bis nach New York, der rasende Gedankenstrom, den die Anti-Heldin nicht kontrollieren kann, treibt sie in einen Selbstmordversuch. Bis sie irgendwann in einem Motel in einer verlassenen Gegend begreift, dass sie vor ihrem Leben nicht fliehen kann, sondern sich damit auseinander setzen muss.

Mit einem ersten Anruf zu Hause entlässt die Autorin ihre Protagonistin aus dieser furios erzählten und fesselnden Geschichte um eine obsessive, existentielle Krise voller Angst und Lähmung. Das sprachliche Ausloten der dunklen Innenwelten der Figur gelingt auf irritierend präzise Weise; irritierend, da die Autorin von sich sagt, sie lote diese Schattenseiten aus, ohne sie selbst erlebt zu haben. Eine grandiose Inszenierung, die mit der Darstellung elementarer körperlicher Weiblichkeit ein eher ungewohntes Thema literarisch aufgreift, das aber gekonnt umsetzt. Für ihren Debütroman erhielt Heike Geißler, die in München lebt, noch vor der Publikation des Buches den letztjährigen Alfred-Döblin-Förderpreis.

Titelbild

Heike Geißler: Rosa. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
214 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421056056

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