Der Mord als Ausweg

"Dich schlafen sehen" von Anne-Sophie Brasme

Von Heike NiederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Nieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Charlène ist sechzehn, als sie mit einer einzigen Tat gleich zwei Leben zerstört: Das von Sarah und ihr eigenes.

Und dabei hatte alles so schön begonnen. Mit Dreizehn lernt die von Selbstzweifeln zerfressene Charlène die allseits beliebte Sarah kennen. "Ich möchte, dass du meine Freundin wirst", erklärt Sarah Charlène, und die ersten Monate sind wunderbar: Bei Sarah glaubt Charlène endlich, wahrgenommen und geliebt zu werden, durch sie lernt die vorher Selbstmordgefährdete zu leben. Sarah wird ihr zum Wichtigsten auf der Welt, wenn die Freundin fort ist, hat Charlène "das Gefühl, nichts mehr zu sein." Und genau das wird ihr zum Verhängnis. Als die Schule nach den Sommerferien wieder anfängt, ist nichts mehr wie vorher. Sarah hat sich verändert. Charlène hat keine Erklärung für dieses Verhalten, für Sarahs Ignoranz ihr gegenüber und ihre "demonstrative Verachtung". Doch es ist zu spät: "Ich war von Sarah regelrecht besessen. Sie hatte sich in mein Leben gedrängt und mir dann alles genommen, meine Vergangenheit, meine Würde, meine Freiheit. Alles, was nicht sie war, hatte keine Substanz." Charlène lässt sich alles von Sarah gefallen, ihre Beleidigungen und ihre Befehle. Sie wehrt sich nicht, denn sie glaubt, dass sie ohne Sarah nicht leben kann. Was als Suche nach Geborgenheit und Selbstbestätigung in einer Freundschaft begonnen hatte, wächst nun in Charlène zu einer Besessenheit an, die sich bis in den Wahnsinn steigert.

Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da Sarah Charlène nicht mehr nötig hat, und ihr am Telefon die Freundschaft kündigt: "Du bedeutest mir nichts. Du hast mir nichts gegeben. In deiner Gegenwart ersticke ich." Doch in Wahrheit ist es Charlène, die in dieser Freundschaft nicht mehr atmen konnte. Um selbst wieder Luft zu bekommen und um ihren "Wahnsinn zum Schweigen zu bringen", weiß Charlène schließlich, was sie zu tun hat.

Wer so eindringlich vom Zerfall einer Freundschaft schreibt und es so gut versteht, die Abgründe der menschlichen Seele aufzudecken, bringt wohl eine Menge Lebenserfahrung mit. Sollte man meinen. Doch Anne-Sophie Brasme, die Autorin des vor zwei Jahren in Frankreich erschienenen Romans "Respire" ("Atme"!), war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erst 16 Jahre alt. Das Buch hat sich in Frankreich fast 100.000 mal verkauft und war eine der großen Sensationen des französischen Buchherbstes 2001. Mittlerweile erscheint es in 15 Ländern, so auch in Deutschland unter dem Titel "Dich schlafen sehen".

Das jugendliche Alter der Autorin ist sicher mit ein Grund für den unglaublichen Erfolg des Romans, schließlich lässt sich damit gut Werbung machen. Doch auch wenn das Alter der eigentliche Kaufgrund gewesen sein sollte: Spätestens nach den ersten beiden Kapiteln hat der Leser das vergessen. Denn die Art, wie Anne-Sophie Brasme erzählt, zieht jeden Leser in ihren Bann. Sie lässt die 19jährige Charlène, die seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt, aus der Retrospektive die Geschehnisse beschreiben, die zu der unvermeidlichen Tat geführt haben. Für Charlène war das Schreiben seit ihrer Kindheit ein Schutz vor der oft grausamen Wirklichkeit - eine Art Realitätsverdrängung. Und so auch hier: In der Haftanstalt beginnt Charlène ihre Geschichte aufzuschreiben, nicht weil sie bereut, sondern um zu verarbeiten. Sie öffnet sich voll und ganz, wie einem Tagebuch, und der voyeuristische Leser wird Zeuge ihrer intimsten Gedanken. Dabei bedient sie sich einer wunderschönen Sprache, reich an Vergleichen, fast schon poetisch:

"Eines Nachts, als der Mond in mein Fenster schien und mit seinen Strahlen das Halbdunkel in meinem Zimmer durchschnitt, spürte ich in mir einen zarten, warmen Schmerz."

Gut, eine 16-Jährige mit einem ungewöhnlichen Schreibtalent, das mag gelegentlich vorkommen. Aber woher nimmt eine so junge Autorin das Wissen und das Einfühlungsvermögen, die Empfindungen der Protagonistin zu beschreiben, die diese schließlich zum Mord führen?

"Ich spürte, dass ich nur eine Chance hatte, wenn ich bereit war, eine Menge von mir einfließen zu lassen. Das Buch sagt eine Menge über mich, über meine Jugend, meine Träume, meine Ängste." Genau hier liegt der Schlüssel zu der Glaubwürdigkeit des Erzählten. Denn Anne-Sophie Brasme ist genauso jung wie ihre Hauptfigur und nur allzu vertraut mit den Problemen und Ängsten der Pubertät. Selbstzweifel, Minderwertigkeitskomplexe, der Wunsch nach Selbstbestätigung in einer Freundschaft oder Clique - jeder hat sie durchgemacht, diese schwierige Zeit bis hin zum Erwachsensein, mehr oder minder intensiv, die einen erinnern sich noch gut, die anderen weniger. Doch Anne-Sophie Brasme braucht sich nicht zu erinnern, sie muss nicht rekapitulieren, sie kann aus ihrer Gegenwart schöpfen. Dass sie darüber hinaus fähig ist, diese Gefühle literarisch bis ins Extrem zu entwickeln, bis in diesen Wahnsinn, der Charlène schließlich alle Moral vergessen lässt, ist ohne Zweifel eine herausragende Leistung. Und auch wenn der Leser Charlène am Schluss vielleicht nicht wirklich versteht, wenn sie sagt: "Ich habe begriffen, dass die einzige Möglichkeit [meinen Wahnsinn] zum Schweigen zu bringen, darin bestand, ihm ins Auge zu sehen und alles zu tun, was er befahl", so kann er den Lauf der Dinge doch ohne weiteres nachvollziehen.

Vielleicht hat die Autorin ein bisschen dick aufgetragen, als sie auf die Familie Charlènes eingeht. Charlène hat sich in ihrer Kindheit oft einsam gefühlt: Ihr Vater war nie zu Hause, ihre Mutter war kalt "wie ein Eisblock", die Eltern stritten sich oft. Die Autorin bedient also das Standardrepertoire an Kindheitstraumata. Dessen ungeachtet bleibt "Dich schlafen sehen" ein durchaus empfehlenswerter Roman, der seine Spannung nicht durch die Beschreibung einzelner Ereignisse gewinnt, sondern durch die Schilderung von Charlènes Gefühlen und Gefühlsschwankungen.

Wer ihn liest, identifiziert sich zwangsläufig mit der Mörderin Charlène, die aufgrund ihrer Unsicherheit und ihrer Selbstzweifel in die extreme Beziehung zu einem anderen Mädchen hineinschlittert und sich nur durch einen Mord befreien kann. "Ich wollte den Blick des Lesers schärfen für die Probleme junger Mädchen", so Anne-Sophie Brasme über ihre Intention während des Schreibens. Das ist ihr mit Sicherheit gelungen.

Titelbild

Anne-Sophie Brasme: Dich schlafen sehen.
Übersetzt aus dem Französischen von Reiner Pfleiderer.
Goldmann Verlag, München 2002.
191 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3442309905

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