Reale Mütter und fiktive Exotinnen
Schriftstellerinnen, Feminismus, Mütterlichkeit und hybride Frauenfiguren um 1900
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIda Boy-Eds, Maria Janitschek, Margarete Böhme, Enrica von Handel-Mazetti - diese Namen dürften allenfalls noch einigen LiteraturwissenschaftlerInnen geläufig sein, die sich mit der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschäftigen. Der von Karin Tebben herausgegebene Sammelband "Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle" könnte dazu beitragen, sie einem etwas größeren Kreis bekannt zu machen. Denn ebenso wie auch heute noch bekanntere Autorinnen - etwa Ricarda Huch und Bertha von Suttner - werden sie in dem Buch durch ihnen gewidmete Beiträge gewürdigt, die allerdings schon mal ausgesprochen kritisch ausfallen können, wie etwa ausgerechnet im Falle einer der prominenteren Autorinnen: Marie von Ebner-Eschenbach, deren Romane Helmut Koopmann "Bedeutungslosigkeit", "Banalitäten" und "Oberflächlichkeit" vorwirft.
Die meisten der vorgestellten Schriftstellerinnen traten in ihren Werken für die Rechte der Frauen ein (so etwa Gabriele Reuter, Else Jerusalem und Helene Böhlau) oder zählten gar - wie Hedwig Dohm - zu den führenden Köpfen der Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwei der Literatinnen, die zwar selbst ein für damalige Zeiten außergewöhnlich emanzipiertes Leben führten, standen dem Feminismus allerdings kritisch gegenüber: Lou Andreas-Salomé und Franziska zu Reventlow. Letztere verfasste gar zwei explizit antifeministische Pamphlete: "Das Männerphantom der Frau" und "Viragines oder Hetären".
Lohnt bei - fast - allen der in dem Buch vorgestellten Schriftstellerinnen die (Wieder-)Entdeckung, so fallen die Texte der Beitragenden selbst höchst unterschiedlich aus. Auch dem insgesamt informativen einleitenden Text der Herausgeberin wird man nicht in allen Punkten zustimmen wollen. So kann man Andreas-Salomés ausgesprochen kritische Monographie "Nietzsche in seinen Werken" wohl schwerlich als "Hommage" an ihren "Meister" bezeichnen (vgl. die Rezension des Buches in literaturkritik.de 9/2000).
Ein "Lesebuch" mit Erzählungen einer Autorin, die in Tebbens Buch vielleicht nur deshalb nicht aufgenommen wurde, weil ihre ersten schriftstellerischen Versuche das Fin de Siècle um ein Jahrzehnt verfehlten, hat Charles Linsmayer zusammengestellt und mit einem ausführlichen biographischen Nachwort versehen, das der oft nur schwer erträglichen Hagiographie Ellen Delps ohne weiteres den Rang abläuft - und das nicht nur wegen dem bei aller Sympathie doch auch kritischen Blick, den er auf Ullmann wirft. Hinzu kommt, dass er etliche Archivalien erstmals ausgewertet hat, aufgrund derer er etwa von der "grenzenlose[n] Naivität" berichten kann, die Ullmann noch 1934 dem Nationalsozialismus gegenüber an den Tag legte, in dem sie zu diesem Zeitpunkt noch "etwas Harmloses" sah, so etwas ähnliches "wie einen nicht mehr ganz so frommen Katholizismus", wie Linsmayer formuliert. Die aus jüdischer Familie stammende überzeugte Katholikin schrieb in einem Brief vom Oktober 1933, die katholische Kirche habe überhaupt "nie anderes als die Prinzipien hochgehalten, als die des neuen Staates".
Mit besonderer Ausführlichkeit schildert Linsmayer einen Kampf, den Ullmann gut zwei Jahrzehnte zuvor ausgefochten hatte und bei dem ihre Mutter federführend gewesen war. 1907 hatte Regina Ullmann sich in den Anarchisten und Psychoanalytiker Otto Gross verliebt und erwartete schon bald ein Kind von ihm. Anhand der Briefe, die Regina Ullmann von ihrer Mutter während der Schwangerschaft erhielt, rekonstruiert Linsmayer die ebenso nachdrücklichen wie ausdauernden, aber letzten Endes vergeblichen Versuche beider, den "heissumschwärmten revolutionären Guru" zur Anerkennung der Vaterschaft zu bewegen. Bis zur Niederkunft Regina Ullmanns hatte sich das "Trauerspiel" von einer "antiken Tragödie" zur "Kleinbürgermoritat" entwickelt. Denn obzwar Mutter und Tochter keinesfalls bereit waren ohne weiteres auf die Zahlungen von Otto Gross zu verzichten, setzten sie doch alles daran, "weder von der Schwangerschaft noch von der Geburt noch vom zu erwartenden Kind jemand etwas merken zu lassen".
Später hat Regina Ullmann die Beziehung zu Gross zeit ihres Lebens "hartnäckig tabuisiert" und auch in der in Abstimmung mit der greisen Autorin um 1960 verfassten Biographie Delps fehlt jeglicher Hinweis auf den Vater des Kindes. So ist es um so interessanter, dass Linsmayer in Ullmanns Nachlass ein "undatiertes Schreibmaschinentyposkript von 33 Seiten" mit dem Titel "Girgel und Lisette" entdeckt hat, bei dem es sich um eine "verkappte Darstellung" von Regina Ullmanns Beziehung zu Otto Gross handelt, wie für Linsmayer "ausser Zweifel" steht. Dass Ullmann - wie die Berner Germanistin Christine Kanz unlängst überzeugend dargelegt hat - Otto Gross und seine psychoanalytischen Theorien und Methoden auch in der zu ihren Lebzeiten publizierten Erzählung "Die Konsultation" portraitiert hat, scheint Linsmayer allerdings entgangen zu sein. Beide Texte hat er bedauerlicherweise nicht in die Sammlung aufgenommen, die ansonsten die wichtigsten Erzählungen Ullmanns enthält, wie etwa "Von der Liebe zweier Schwestern", "Die Landstraße" und "Von einem alten Wirtshausschild".
Nicht alle unverheirateten Frauen hatten solche Probleme mit ihrer Mutterschaft wie Regina Ullmann. Franziska zu Reventlow etwa zelebrierte sie geradezu, wie auch Linsmayer bemerkt. Dabei handelte es sich bei der Frage der Mutterschaft um eines der zentralen Themen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Gestritten wurde um die Rechte der Mütter ebenso wie um das Recht auf Abtreibung. Die Auseinandersetzung fand gleichermaßen in der Politik, der Literatur und innerhalb der Frauenbewegung statt. Letzterer widmet sich Ann Taylor Allen in ihrer historischen Studie "Feminismus und Mütterlichkeit in Deutschland 1800-1914". Sie erzählt nicht nur die Geschichte von Frauen, "die in den Geschichtsdarstellungen bisher nicht vorkamen", sondern entwickelt darüber hinaus auch ein theoretisches Konzept, anhand dessen sie die "Ideen und Handlungen" dieser Frauen "im Kontext ihrer Gesellschaft, ihrer Kultur und ihrer Epoche" interpretiert. Dabei vergleicht die amerikanische Autorin den deutschen Feminismus mit seinen Schwesterbewegungen in England und den USA und verteidigt den "mütterlichen Feminismus" im Deutschland zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gegen den von verschiedener Seite erhobenen Vorwurf, seine Mütterlichkeitsideologie habe dazu beigetragen, dass die nationalsozialistische Diktatur von Frauen "akzeptiert und sogar begeistert aufgenommen" wurde.
Nicht der Haltung des Feminismus zur Frau als Mutter, sondern der exotischen Frau in literarischen Werken gilt das Interesse Christl Grießhaber-Weningers. In den vier Abschnitten ihrer Dissertation untersucht sie anhand von Texten Gottfried Kellers, Gabriele Reuters, Heinrich Manns und Max Dauthendeys "hybride Frauenfiguren" in der Literatur um 1900. Als "Auswahlkriterium" der Texte nennt die Autorin, "'fremdrassiche' außereuropäische" Protagonistinnen. Jedem der vier "literarisch applizierenden" Kapitel ist ein kürzeres "diskurshistorisch kontextualisierendes" vorangestellt. Ihre Untersuchung führt die Autorin zu dem zwar überzeugenden, jedoch wenig überraschenden Fazit, "daß alle Protagonistinnen doppelt unterlegen" sind: als Frauen in patriarchalischen Gesellschaften und als "rassisch und/oder sozial hybride Frauen" in europäischen Gesellschaften. Sie seien also gewissermaßen einem "Kolonialismus im Quadtrat" unterworfen.
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