Im Zentrum des Schönen
Irmela Marei Krüger-Fürhoff widmet sich dem versehrten Körper um 1800
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn seiner jüngsten Studie hat Winfried Menninghaus dargelegt, dass dem Ekel in der Kunsttheorie um 1760 eine doppelte Funktion zukommt. Zum einen stellt er als das "schlechthin Andere" des Schönen jenen "unmittelbaren Grenzwert" dar, der das sich gerade etablierende Feld des Ästhetischen bestimmt: "Der verwundete, sezierte, zerstückelte Körper, wie er bei, vor und nach Winckelmann, Herder und Lessing in den Künsten erscheint, ist nicht so sehr Antidoton eines vorgängigen Ideals der schönen Gestalt als umgekehrt: dieses verdankt sich seinerseits einer angestrengten Arbeit der Invisibilisierung der Defekte, Abtrennungen und innerlichen Deformitäten." Zum anderen bezeichnet der Ekel jedoch nach Menninghaus auch eine dem Schönen bereits selbst innewohnende Gefahr, die als Überdruss und Sättigungsekel jeden ästhetischen Genuss in sein Gegenteil umschlagen lässt, falls das Schöne nicht durch Konzeptionen wie "Grazie" oder "Seele" ergänzt wird oder sein Genuss variiert bzw. durch die Beschäftigung des Verstandes unendlich aufgeschoben wird. Damit dringt der Ekel nicht von außen in den Bereich des Schönen ein, sondern ist diesem bereits eingeschrieben bzw. wird von diesem selbst produziert.
Irmela Marei Krüger-Fürhoff schließt in ihrer Untersuchung "Der versehrte Körper" an Menninghaus' Überlegungen an und hinterfragt die Annahme, dass Ästhetik und Literatur des Klassizismus sich auf die Darstellung unversehrter, harmonischer und idealschöner Körper beschränken. Ihre Arbeit geht von der irritierenden Beobachtung aus, dass "das 'Andere' der schönen Ganzheit - also der versehrte Körper - nicht allein in Berichten über die Kriege der Revolutionszeit oder in zeitgenössischen anatomischen und gerichtsmedizinischen Schriften allgegenwärtig ist, sondern auch in der so genannten schönen Literatur des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine exponierte Rolle spielt. Damit widmet sich die Verfasserin einer Leerstelle innerhalb des wissenschaftlichen Feldes. Ihre Kernthese lautet, dass der versehrte Körper als zugleich ausgeschlossenes und konstitutives Moment der klassizistischen Literatur und Ästhetik fungiert. Wirft man einen Blick auf die Initialtexte des Körper-Diskurses, so wird man gewahr, dass vor allem schon Michel Foucault seit den 60er Jahren das Zusammenwirken von Macht und Wissen ins Blickfeld rückt, durch das der Körper auf historisch je spezifische Weise sowohl konstruiert, imaginiert als auch diszipliniert wird. Krüger-Fürhoff gelingt es zu zeigen, dass das 18. Jahrhundert aus dieser Perspektive von besonderem Interesse ist, weil sich in ihm "die letzte Phase eines grundsätzlichen Wandels des Körperverständnisses beobachten läßt: die Entwicklung vom grotesken bzw. durchlässigen Körper zum homo clausus." Dadurch wird evident, dass der ausgegrenzte versehrte Körper zum übersehenen oder verdrängten Ursprung der klassizistischen Ganzheitsästhetik wird.
Der groteske Körper ist das dezidierte Gegenstück zum Idealbild abgeschlossener und unversehrter Körperlichkeit, das um 1800 nachdrücklich in der Literatur, Ästhetik und Kunst des Klassizismus artikuliert wird. Gerade deshalb aber stellen Phänomene versehrter Körperlichkeit um 1800 - wie Krüger-Fürhoff zu Recht hervorhebt - eine besondere Provokation, ja Bedrohung dar. "Sie sind der Ort, an dem die klassizistische Ästhetik sich bewähren muß - oder aber gesprengt wird." Explizit wendet sich die Verfasserin gegen die Tendenzen, die noch der von Hans-Jürgen Schings herausgegebene DFG-Tagungsband "Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur um 1800" zu suggerieren versuchte. Zwar meint auch dort das Schlagwort vom "ganzen Menschen" ausdrücklich das gefährdete, körperlich begrenzte und in sich gespaltene Subjekt, aber dennoch evoziert die Rede von einer Ganzheit des Körpers einen harmonisierenden Unterton, der die Sprengkraft einer Literatur- und Kulturgeschichte herunterspielt, die ihren Ausgang nicht vom homo clausus, sondern umgekehrt vom versehrten Körper nähme. Krüger-Fürhoffs Studie wendet sich gegen solch ein geglättetes Verständnis und richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Darstellung von Körpern, deren 'schöne' Ganzheit, ja Integrität "in einem ganz physischen Sinne verletzt" ist. In diesem Sinne erscheint es auch plausibel, sowohl nicht-fiktionale Texte unterschiedlicher Disziplinen (Reiseführer, medizinische Forschungsberichte oder Protokolle der Gerichtsmedizin) als auch Werke aus dem Bereich der Literatur, der bildenden Künste, also der Plastik, der Malerei und der anatomischen Wachsbildnerei zu untersuchen. Daher läuft die Verfasserin auch nicht Gefahr, mit einem zu teleologischen Blick ausschließlich über literarische und philosophische Diskurse zu sprechen; statt dessen konfrontiert sie unter einer jeweils einheitlichen Perspektive unterschiedliche kulturelle Diskurse miteinander. Dabei kommen erfreulicherweise neben einer Vielzahl kanonischer Werke auch Texte zu Wort, die für ihre Zeit von einiger Bedeutung waren, heute aber nur noch schwer zugänglich sind. Gemeinsamer Fokus der einzelnen Kapitel ist die Frage, welche Konzeptionen des Menschen sich um 1800 aus der Darstellung des versehrten Körpers ableiten lassen. Diskutiert wird aber auch, worin die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen Konzeptionen und Repräsentationen des versehrten Körpers in Literatur, Philosophie, bildender Kunst und Medizin liegen und vor allem auch, welche Veränderungen sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert durch die sich wandelnden ästhetischen Leitbilder und durch die Vielzahl der neuen medizinischen Entdeckungen ergeben.
Dass Krüger-Fürhoff nicht nur zu innovativen Neuansätzen gelangt, sondern auch das handwerkliche Rüstzeug einer Literaturwissenschaftlerin beherrscht, belegen ihre Analysen der ästhetischen und poetischen Aspekte der jeweiligen Texte: Wie kommen die physischen Beschädigungen zu Wort und auf welche Bildfelder greifen die Autorinnen und Autoren dabei zurück? In welchem Verhältnis stehen Materialität und Metaphorizität der Sprache bei der Darstellung grauenvoller Körperphänomene? Dass um 1800 so etwas wie eine Poetik der Wunde, der Einschreibung von Gewalt auf menschliche Körper existiert, veranschaulicht die etymologisch gegründete Metaphorisierung des Verbs "versehren", die es erlaubt, die Erschütterung ernst zu nehmen, die beschädigte Skulpturen - als im doppelten Sinne versehrte Gegenstände und Körper-Bilder - auslösen können (so in Winckelmanns "Beschreibung des Torso vom Belvedere"), sexuelle Ehrverletzungen und körperliche Verwundungen als brutales Kontinuum zu analysieren (wie dies in Moritz' "Signatur des Schönen" angelegt ist) oder oberflächliche Hautritzungen, schwere Wunden und Amputationen aus einem gemeinsamen Blickwinkel zu betrachten (so in Kleists "Zweikampf"). Krüger-Fürhoff orientiert sich in ihrer Arbeit nach einer Analyse der spannungsreichen Dynamik zwischen versehrter Körperlichkeit und klassizistischem Schönheitsentwurf bei Winckelmann vor allem an Verfassern, die sich in ihren Schriften entweder explizit auf diesen beziehen - wie Lessing, Herder, Goethe, Moritz und die Autoren von Reiseführern des 18. Jahrhunderts - oder sich - wie Kleist und Bettine von Arnim - gegen den klassizistischen Diskurs abgrenzen. Der Verfasserin geht es darum "bekannte und 'anerkannte' Werke gegen den Strich zu lesen, um darauf hinzuweisen, wie sehr gerade das klassizistische Schönheitsideal vom Phantasma des versehrten Körpers durchdrungen ist", sodass der Gegen-Diskurs im Kanon selbst sichtbar wird. Wie diese Arbeit zeigt, ist das eigentliche Skandalon des versehrten Körpers um 1800 die irritierende Tatsache, dass er im Zentrum des Schönen selbst anwesend ist.
Insgesamt kann man sagen, dass dieses Buch ein bislang sträflich vernachlässigtes Feld mit Hilfe exemplarischer, detaillierter und äußerst kenntnisreicher Interpretationen eröffnet. Es darf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der versehrte Körper auch jenseits der Schwelle um 1800 zugleich Ärgernis und Organon des jeweils vorherrschenden Schönheitsideals ist. Dadurch ließe sich zeigen, dass der ausgegrenzte versehrte Körper auch in Texten des 19. und 20. Jahrhunderts zur zentralen Herausforderung einer Ganzheitsästhetik wird. Das war aber nicht Thema des vorliegenden Buches, sondern wird hoffentlich Gegenstand nachfolgender Publikationen. Abzuwarten bleibt, ob die dann tätig werdenden VerfasserInnen literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven zu einem ähnlich luziden Beitrag verknüpfen können, wie dies Irmela Marei Krüger-Fürhoff eindrucksvoll gelungen ist.
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