Zuspitzende Rede in Gegensätzen

Zu den Bänden 7 und 10 der Lessing-Ausgabe des Klassiker-Verlags

Von Gerhart PickerodtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhart Pickerodt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gotthold Ephraim Lessing hat in der heutigen Rezeption keinen leichten Stand. Zweifelte schon Friedrich Schlegel am Ende des 18. Jahrhunderts an Lessings Dichtertum, so wird heute auch die Haltung des Literaturkritikers und des Streiters gegen die theologische Orthodoxie ins Zwielicht gerückt. Wenn selbst ein Lessing-Preisträger im Herbst des Jahres 2001 gegen den, in dessen Namen er geehrt wird, polemisiert, ihn als "sicheren Gutmenschen" schilt und von ihm behauptet, dass er "schäbig und überheblich seine literarischen und theologischen Gegner traktierte", dann bleibt diesem Lessing-Preisträger namens Botho Strauss nichts als der Hohn, der mit Lessing auch das treffen will, was dieser repräsentiert: "Er steht nun einmal für das Gute und Korrektgesinnte in der deutschen Geistesgeschichte, für Liberalität, Toleranz und Emanzipation". Solcher Anti-Lessing macht in bemerkenswerter Klarheit deutlich, was an Lessing verachtenswert gehalten werden soll: Liberalität, Toleranz und Emanzipation, Werte der Aufklärung, die vor und nach dem 11. September 2001 - Strauss' Rede wurde am 6. September in der "Zeit" gedruckt - offenbar in den Müll der Geschichte zu werfen sind.

Auch die Literaturwissenschaft möchte in diesem Kulturkampf gegen den Aufklärer Lessing nicht zurückstehen. So sucht beispielsweise Peter J. Brenner in einem populären, bei Reclam 2000 erschienenen Lessing-Buch den "Skeptiker" Lessing von der Aufklärung zu trennen, indem er ihm "Unverbindlichkeit" vorhält. Lessing selbst habe die Legende "vom ewigen Wahrheitssucher" ins Werk gesetzt. Es habe ihm, Lessing, an der notwendigen Ernsthaftigkeit und einer Orientierung auf Praxis gemangelt, vielmehr habe er "die Suche nach Wahrheit wohl mehr als ein Spiel oder als ein Vergnügen betrieben".

Im Fragmentenstreit zwischen Lessing und Goeze, dem orthodoxen Hamburger Hauptpastor, nimmt der Literarhistoriker Brenner Partei für den Pastor, der ihm als der "bessere Aufklärer" erscheint, weil er die Praxis des Seelsorgers im Auge hatte, während Lessings Skepsis eben zur "Unverbindlichkeit" tendiert habe. Im übrigen war - nach Brenner - Goeze Lessing auch historisch überlegen, denn Goeze "versteht sich als Verteidiger der überkommenen Ordnung von Thron und Altar. Damit dürfte er den Bedürfnissen des bürgerlichen 18. Jahrhunderts näher gekommen sein als Lessing", da dieser es darauf anlegte, "Unruhe und Unzufriedenheit zu stiften".

Unverblümter sind reaktionärere Ansichten über Lessing und seine Epoche wohl lange nicht geäußert worden als die - gegeneinander widersprüchlichen - von Strauss und Brenner in heutiger Zeit.

Hilft gegen diese dem Zeitgeist folgenden und ihn forcierenden Auffassungen eine neue Ausgabe seiner Schriften? Wohl kaum, zumindest nicht unmittelbar. Die Hoffnung, man müsse Lessing nur lesen, damit das Urteil über ihn gerechter und ihm angemessener ausfalle, dürfte angesichts einer massiven Vorurteilsballung trügerisch sein. Gleichwohl besitzt die neue, auf 12 Bände geplante Ausgabe der "Bibliothek deutscher Klassiker", deren Bände 7 und 10 hier anzuzeigen sind, ihr eigenes Gewicht. Grundsätzlich liegen die Vorteile einer nicht systematisch, sondern chronologisch angelegten Ausgabe auf der Hand. Der Leser vermag bei dieser Anlage das biographisch-werkgeschichtliche Umfeld des Textes, für den er sich interessiert, unmittelbar zu überblicken. So zeigt Band 7, der die Schriften zwischen 1770 und 1773 wiedergibt, die "Emilia Galotti" im Kontext von literarhistorischen und kirchengeschichtlichen Abhandlungen jener Zeit, so der Schrift über Berengarius Turonensis, in der Lessing die Ketzer-Haltung jenes Autors des 11. Jahrhunderts rekonstruiert. Lessing bekennt in dieser Schrift zwar sein Laientum in dogmageschichtlichen Fragen, lässt jedoch seinen Gegenstand im Lichte der Aufklärung und der eigenen Humanitätsprinzipien erglänzen. Sätze wie die folgenden scheinen ganz dem Geist der "Emilia" zu entsprechen und auf den "Nathan" vorauszuweisen. "Weil Berengarius schwach war: muss er darum mit Vorsatz auch falsch gewesen sein? Weil ich ihn beklagen muss, soll ich ihn auch verachten müssen? Der Mann, der, bei drohenden Gefahren, der Wahrheit untreu wird, kann die Wahrheit doch sehr lieben, und die Wahrheit vergibt ihm seine Untreue, um seiner Liebe willen. Aber wer nur darauf denkt, die Wahrheit unter allerlei Larven und Schminke an den Mann zu bringen, der möchte wohl gern ihr Kuppler sein, nur ihr Liebhaber ist er nie gewesen."

Es ist die Diktion dieser Sätze, die sie mit der Dialog-Sprache beispielsweise der "Emilia" übereinstimmen lassen. Die zuspitzende Rede in Gegensätzen, das Aperçuhafte, der ausgefeilte Bau der Satzperioden: Alles klingt nach Sentenz, und bleibt dennoch vollkommen konkret, sachbezogen wie die berühmte Wendung des Odoardo Galotti: "Und glauben Sie, glauben Sie mir: wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren. -"

Liebhaber der Wahrheit versus ihr Kuppler: zeigt sich hier Lessings nur spielerische Unverbindlichkeit im Verhältnis zur Wahrheit, wie ihm die heutige Kritik im Geist Goezescher Orthodoxie unterstellen zu dürfen meint? Dass in der Suche nach Wahrheit untreue Liebe mehr ist als lieblose Treue, dass ein verlorener Verstand eben von Verstand zeugt und nicht von Unverstand, solche Paradoxien gehören zum Wesen der Haltung Lessings, welche die Parallellektüre des Bandes 7 offenlegt. Gewiss erweist sich Lessing hier wie anderswo als Skeptiker, doch nur in dem Sinn, dass er am Haben, am Besitz der Wahrheit zweifelt, die Liebe zu ihr ihm indessen als Motiv für die Suche nach ihr gilt.

Der Band enthält einen Kommentarteil, der beinahe genau denselben Umfang einnimmt wie der der Texte, was entsprechend auch für den 10. Band gilt. Solche Parität weist auf die Gediegenheit der Kommentare hin, die dennoch nicht überfrachtet sind. Besonders hervorzuheben ist die knappe Skizze der Lebens- und Arbeitsumstände Lessings in der frühen Wolfenbütteler Zeit: eine Darstellung, die auf elf Seiten ein Porträt dieser Jahre vermittelt, welches das Unbehagen am Orte und mit den Arbeitsbedingungen als ostinates Motiv erscheinen läßt. Auch die Kommentare selbst sind musterhaft konzipiert und realisiert, indem sie die Entstehung, den Stoff, die Rezeption dokumentieren, ohne indessen auf werkinterpretatorische Hinweise ("Stoff und Struktur") zu verzichten.

Der 10. Band enthält Schriften der letzten Lebens- und Arbeitsphase Lessings (1778 -1781), daneben Nachlaß-Schriften, die teilweise weit zurückreichen, sowie eine Auswahl der sogenannten "Collektaneen", einer Sammlung von aphoristischen und werkprogrammatischen kürzeren Äußerungen, ihrer Art entsprechend des Arbeitsjournals.

Zu den wichtigen Publikationen dieser von Krankheiten gezeichneten Jahre gehören die Freimaurer-Gespräche, in denen Lessing auf Grundbedingungen der Gesellschaftlichkeit des Menschen reflektiert, sowie "Die Erziehung des Menschengeschlechts", Lessings Testament in Sachen Offenbarung und Aufklärung, sein Fazit aus dem Fragmentenstreit und seine Fortsetzung des "Nathan". Auch Philologisches beschäftigte Lessing bis unmittelbar vor seinem Tod, immer wieder das Mittelalter, zu dessen geschichtlicher Erschließung Lessing vor den Grimms wohl die wichtigsten Beiträge geliefert hat. Auch dieser Band ist vorzüglich kommentiert, auch wenn die biographische Summe der letzten Lebensjahre nicht immer so konzis geschrieben ist wie die der ersten Wolfenbütteler Zeit in Band 7. Dass Lessings Stieftochter auf einer Hamburg-Reise "unverhofft" erkrankt, ist ein sprachlicher Lapsus, ebenso die Feststellung, sie habe "rührend" für Lessing gesorgt.

Gleichwohl bezeugen beide Bände, daß diese neue Lessing-Ausgabe - wahrscheinlich die letzte für Jahrzehnte - gegenüber der von Göpfert aus den siebziger Jahren gewichtige Vorzüge hat. Der Kommentar ist detailliert angelegt und auf dem neuen Stand der Forschung, er ist übersichtlich gegliedert und verbindet die Werke des jeweiligen Bandes. Hinzu kommt die chronologische Ordnung der Werke, wenn sie sich auch nicht immer ganz konsequent realisieren ließ.

Am Ende bleibt durchaus die Frage, inwieweit diese Ausgabe einer teils modischen, teils originalitätssüchtigen, teils schlicht reaktionären Lessing-Kritik heutiger Tage Widerpart zu bieten vermag. Sie kann es nicht, weil auch die beste Ausgabe keinen Zaun der Authentizität um Lessings Werke, seine Sprache, seinen kritischen Geist zu ziehen imstande ist. Auch hätte sich der streitlustige Lessing einen solchen Zaun auch keineswegs gewünscht. Der Leser muss seinen eigenen Verstand mobilisieren, um der Kritik kritisch begegnen zu können. Dabei hilft ihm diese Ausgabe, und das ist kein geringer Verdienst derjenigen, die sie erarbeitet haben.

Titelbild

Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1770 - 1773. Band 7: Emilia Galotti und andere Werke und Briefe.
Herausgegeben von Klaus Bohnen.
Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
950 Seiten, 79,80 EUR.
ISBN-10: 3618611102

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Titelbild

Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1778-1781.
Herausgegeben von Arno Schilson und Axel Schmitt.
Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
1318 Seiten, 79,80 EUR.
ISBN-10: 3618611404

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