In der Geisterbahn des Widerstands

Klaus Theweleit blickt auf 1968 zurück

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem Klaus Theweleit mit seinen "Männerphantasien" schon vor Jahrzehnten eine vielbeachtete Aufarbeitung des Faschismus vorgelegt hat, erscheint es nur folgerichtig, dass sich der Freiburger Soziologe jetzt der deutschen Nachkriegsgeschichte zuwendet. Der Band "Ghosts" erschien zum zwanzigsten Jahrestag des Deutschen Herbstes und versammelt drei "leicht inkorrekte" Vorträge. Wie und warum haben sich Einzelne und Gruppen in den letzten dreißig Jahren verwandelt? Der Versuch, eine komplexe Antwort auf diese scheinbar simple Frage zu geben, führt als roter Faden durch Theweleits gesellschaftsgeschichtliche Geisterstunde.

Am "Gespenst RAF" zeigt er exemplarisch, wie sich die linken Utopisten der Studentenrevolte immer weiter radikalisiert haben. In ihrem rabiaten Versuch, sich von der Last der Eltern, von den Greueln der Tätergeneration zu befreien, war ein neues Gewaltsystem bereits angelegt. Theweleit, der selbst Mitglied des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) war, erinnert sich an das damals neu entstandene Zwangssystem, welches eine Organisation ad absurdum führte, die sich gerade gegen totalitäre Herrschaft gerichtet hatte.

In den Jahren, da sich alles auf Faschist reimte (Peter Schneider), wollten empörte Revolutionäre die erzwungene Schweigestarre der Nazi-Generation auflösen. Man agitierte und führte ein Leben in permanenter Selbstüberforderung. Als einziges Mittel gegen "schuldbeladene Verschweiger, schamlose Lügner, ordnungshütende Killer" erschien da zunächst die Sprache. So verwundert es nicht, dass eine Bewegung entstand, die sprachbesessen war wie kaum eine gesellschaftliche Gruppierung zuvor.

Theweleit interpretiert die Studentenproteste als Siege des Marxismus, der Psychoanalyse, des Pop - und nicht zuletzt als Durchbruch einer großen Sprachöffnung. Schließlich war 1968 vor allem die Zeit der moralischen Schuldzuweisungen. Die Anklage vollzog sich in einem Konglomerat von aktionistischen, happeninghaften, wissenschaftlichen, pädagogischen, besserwisserischen, überfahrenden, berauschten, klatschhaften, verzehrenden, selbstdarstellerischen, paranoischen und narzisstischen Sageweisen. Durch diesen Sprachsumpf hindurch zeigt der erste Vortrag die 68er als selbsternanntes moralisches Gewissen und entlarvt sie mit historischem Abstand als das, was sie oft genug auch waren - nämlich Schwätzer, Angeber und Wichtigtuer, die an intellektueller Selbstüberschätzung litten.

Hatte man durch die neue Vielfalt der Sprechformen zum ersten Mal die Möglichkeit einer Verbindung eigener Aussagen mit dem öffentlichen Raum geschaffen, so zerronn diese neue Freiheit, als die RAF aufkam. So wild wuchernd die Sprachen der 68er-Generation waren, so gefährlich war der nachfolgende Schritt von der Theorie zur Praxis. Da mit Worten nichts mehr zu erreichen war, gingen einige Genossen in den Untergrund und eröffneten schließlich den bewaffneten Kampf. Theweleit kann als Zeitzeuge seinen Unmut über uneingelöste Hoffnungen nicht verhehlen. Schließlich fragt er ganz trocken, was Ulrike Meinhof sonst hätte tun können: "High Class macht eben Terrorismus, wenns anders nicht läuft."

Wie der zweite Vortrag verdeutlicht, war auch die Politisierung des Sexuellen und die Sexualisierung des Politischen ein geisterhafter Paradigmenwechsel. Dabei ging es nicht nur um die "neue Sprechweise einer sexualisierten Frechheit". Die sexuellen Vorstellungswelten der 68er erfanden auch den Mythos von der befreiten, befreienden Sexualität und etablierten die freie Liebe als Voraussetzung jeglicher Befreiung schlechthin. Wie Theweleit anhand seiner Lektüre von Arno Schmidts "Seelandschaft mit Pocahontas" zeigt, war die Sexualisierung in den 50er und 60er Jahren nichts weniger als ein Aufstand gegen die Verklemmtheit der Kriegsgeneration. Man fand Erlösung von den Alten, indem man den eigenen Körper suchte und erkundete. Die Signale der Nazi-Vergangenheit wurden sexuell umgedeutet und in Lebensmut transformiert. Um von den Eltern nichts annehmen zu müssen, wagte man den Neuanfang, indem man eigene Kinder zeugte.

Nicht minder spukt es im dritten Kapitel dieses Buchs - hier wendet Theweleit den Massenbegriff Elias Canettis auf unsere letzten Jahre an. Dabei stellt sich heraus, dass heutige Massenphänomene nicht mehr zwangsläufig negativ besetzt sind. Ob während der Love Parade oder bei der Trauer um eine englische Prinzessin: Das Aufgehen in der Masse kann als "Eintritt in einen größeren, freieren Körper" erfahren werden. Dabei verschwindet der traditionelle Gegensatz zwischen Masse und Individuum. An seine Stelle tritt für die Konsum-Kinder von Video und Coca-Cola, für die Arbeitslosen vor ihren verkabelten Bildschirmen schließlich das identitätsstiftende Phänomen der medial vermittelten Serie.

So fragwürdig und "inkorrekt" einzelne Ansichten in diesen Vorträgen auch sind (Theweleit spricht etwa in einer grenzenlosen Verharmlosung von den "Akten der Stasi West" und meint damit die bundesrepublikanischen Geheimdienste), so erfrischend ist es, den Gedankengängen dieses Theoretikers zu folgen. Denn auch "Ghosts" zeigt, was seit jeher als das Markenzeichen dieses undogmatischen Gewalt- und Medienexperten gilt: die Fähigkeit zum Querdenken.

Titelbild

Klaus Theweleit: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. und Basel 1998.
256 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3878777442

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