Achtundsechzig - die Zeit unausgestandener Probleme

Oskar Negt und seine Erfahrung als politischer Intellektueller

Von Blanka StolzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Blanka Stolz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon auf dem Titel des Buches erscheint Oskar Negt zur Rede ansetzend vor einer Bücherwand als Inbegriff des politischen Intellektuellen. Er selbst sieht sich als Mentor der Bewegung von 1968 - als ein erfahrener Ratgeber, der nun in "Maulwurfsarbeit" seine politische Erfahrung aus erinnernder Nähe und analytischer Distanz beschreibt und so versucht, nicht nur eine Ära zu rekonstruieren, sondern auch eine Bewegung und die Diskussion um sie aufzuwühlen.

Und es ist eine gewaltige Menge politischer Erfahrung, die Negt hier auf 400 Seiten anbietet. In sechs Themenkreisen sucht er nach den Kernfragen und dem utopischen Gehalt der 68er Bewegung - beides ist seiner Ansicht nach aus dem Blick aktueller, intellektueller Reflexion geraten. Negt fragt nach den positiven wie negativen Tendenzen des Umbruches: nach dem was bleibt, welche Anstöße weiter wirken und welche Ansätze unausgetragen und unabgegolten sind. Dabei versucht er die Rolle der Intellektuellen sowohl geschichtlich in der "unverkürzten Aufarbeitung des Vergangenen" als auch in der gegenwärtigen deutschen Geschichtsschreibung und deren medialer Vermittlung auszuloten. Negt selbst geht dabei so vor, dass er in eingeprägten Bildern, wiedererinnerten Szenen, Essays, Redeausschnitten und politischen Stellungnahmen persönliche Erlebnisse mit politischen und soziologischen Analysen verknüpft. Und dieses scheuklappenfreie Berichten und Nachdenken Negts über die Zeit um 1968 macht Eindruck.

Dabei sieht sich Negt selbst mit dem Problem konfrontiert, mit der eigenen Lebensgeschichte zu eng mit der zu analysierenden Fragestellung verbunden zu sein. Davon zeuge auch die inflationäre Interviewliteratur, so Negt, in der im Rückblick meist wie mit einer Jugendsünde umgegangen werde. Dabei würden vor allem Zusammenhänge, Fragestellungen und Problematisierungen unberücksichtigt gelassen, um die es in dieser Zeit ging und die bis heute nicht ausgestanden seien. Er räumt ein, dass kein Mensch permanent politisch sein könne, das sei identitätsmäßig nur eine Zeitlang auszuhalten, darauf folge dann der Rückzug in die eigene Sphäre und das wiederum sei legitim. Oskar Negt selbst versucht diesem Dilemma zu entkommen, indem er die persönliche Ebene der erinnernden Nähe mit analytischer Distanz in seinem Text verbindet, um der Verharmlosung oder Überhöhung, die er anderen vorhält, zu entgehen. Und eben der lange, reflektierte Text ist es, der ihn von den anderen Berichterstattern der bewegten Jahre abhebt.

Negts Medienkritik macht sich vor allem an dem Einfluss der Medien auf die sich stetig wandelnde Wahrnehmung der Bewegung und deren Auswirkungen und Folgen fest. Durch das Bild das die Medien über die Jahre gezeichnet hätten, sei eine zweite Wirklichkeit entstanden, in der die Menschen und ihre Vorstellungen kaum noch wieder zu finden seien. Vielmehr stellt er einen Widerspruch zwischen der großen öffentlichen Aufmerksamkeit der sich dieses Datum in den Medien erfreut und dem Mangel an wissenschaftlichem Forschungsinteresse mit theoretischer Arbeit, Quellenstudien und analytischen Deutungen fest. So sieht Negt die literarisch und kulturkritische Verarbeitung - die es in früheren Umbruchphasen wie beispielsweise 1848, dem Ersten oder dem Zweiten Weltkrieg sehr wohl als differenzierte Theorieansätze und ästhetischer Produktion gegeben habe - der Umbruchphase von 1968 durch die Medien so dominiert, "dass ein die wirklichen Ereignisse und Entwicklungen überwucherndes und vielfach verzerrendes Material entstanden ist." Genau gegen diese Verzerrung und gegen das Vergessen schreibt Oskar Negt an.

Verweist er mit seiner "Maulwurfsarbeit", die "vielfältige Hügel hinterlassen, aber keine Berge versetzt hat", auf Shakespeare, Hegel und Marx, die mit der Metapher das verändernde, revolutionäre Ansammeln der Kräfte unter der Erde dem platten aufklärerischen Begriff von geschichtlichem Handeln entgegengesetzen, verschweigt er, woher das Konzept des "kollektiven Gedächtnisses", das er allenthalben anwendet, eigentlich stammt: von Maurice Halbwachs "La mémoire collective" bzw. erneut aufgegriffen und bekannt gemacht durch Jan Assmanns "Das kulturelle Gedächtnis", das sich ebenfalls nicht im bibliographischen Anhang - der recht mager ausgefallen ist - finden lässt.

Oskar Negt setzt sich zwar nicht ohne Zorn und auch nicht jenseits von Parteilichkeit mit seinem Thema auseinander, aber gerade die eigene "Erfahrungsqualität", die im Zentrum seiner politischen Philosophie und seines Textes steht, ist es, die ihn vor einer eigenen Verklärung oder Überhöhung der Anstöße von 1968 bewahrt.

Titelbild

Oskar Negt: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht.
Steidl Verlag, Göttingen 2001.
416 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3882432993

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