Erlösung im Unscharfen

Jacques Derridas Versuch einer positiven Erfahrung der Religion

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Religionsphilosophie war lange Zeit ins Hintertreffen geraten. Nun, mit der "Rückkehr des Religiösen", die auch immer eine "Verflüchtigung der Religion ins Religiöse" (Hubert Knoblauch) darstellt und die Idee einer "unsichtbaren Religion" (Thomas Luckmann) evoziert, kommt die Religion auch in der Philosophie wieder ins Gespräch.

Ausgangspunkt war ein Symposion unter der Leitung von Jacques Derrida und Gianni Vattimo auf der Insel Capri, an dem auch Hans-Georg Gadamer (als einziger Nichtitaliener und folglich auf sprachliche Probleme stossend) teilnahm. Kernpunkt der Diskussion sollte eben auch die Frage sein, warum in den vergangenen Jahren unter den Stichworten Fundamentalismus, Integrationismus, Fanatismus eine Rückkehr des Religiösen subsumiert wird.

Den Anstoß der Überlegungen will Derrida liefern: "Was geschieht heute mir ihr, [der Religion], mit dem, was man so nennt? Was geht da vor sich, was läuft da ab, was wirkt da noch? Wer geht da (hin), so beschwerlich? Wer geht da und trägt diesen alten Namen? Was in aller Welt stößt dort zu, was geschieht dort, wo diese Bezeichnung gebraucht wird?". Derridas Distanzierung will die Phänomene ihrer Selbstverständlichkeit berauben. In bester Postmoderne-Manier stellt er fest, dass "wenn man [...] zu wissen glaubt, wovon man spricht, [...] man von Anfang an überhaupt nichts [versteht]". Derrida meldet an der Abwesenheit der Religion oder einer ihrer Teile - denn sie ist wesenhafte Voraussetzung für eine "Rückkehr" - Kritik an. Damit stößt Derrida vor zum Kernpunkt der religionsphilosophischen Debatte, die seit Schleiermacher die Diskussion prägt, aber durch die empirische Religionsgeschichte und, mehr noch, -wissenschaft, seit den 60er Jahren diskreditiert wurde: Die Frage nach dem "Wesen" der Religion nämlich. Dabei flüchtet er sich in eine begriffliche Unterscheidung, die aber bereits 1924 durch die Leipziger Religionswissenschaft und -philosophie (namentlich durch Joachim Wach) angeregt wurde: den Unterschied von "Religion" (als Wesenhaftes) und von "Religionen" (als Empirisches). Vattimo haut genau in diese Kerbe, wenn er auf den Zusammhang zwischen der Rückkehr der Religion und der Rückkehr der Debatte um ihr Wesen verweist. Demzufolge sei die Wiederkehr der Religion "kein bloß akzidenteller Tatbestand [...], den man getrost beiseite lassen kann, um sich einfach auf die dergestalt wiederkehrenden Inhalte zu konzentrieren. Vielmehr dürfen wir mit Recht annehmen, dass die Wiederkehr ein wesentlicher (oder: der wesentliche) Aspekt der religiösen Erfahrung ist.".

Vattimo schlägt vor, eine Zusammenschau von Geschichtlichem und Religion zu unternehmen, was dann wiederum eine "allgemeine Identifikation der Religion mit der Positivität im Sinne von Faktizität, Möglichkeit usw." zur Folge habe. Letzlich, so Derrida und Vattimo, sie Religion "nicht völlig ins Argumentativ-Rationale übersetzbar" (Vattimo). "Wenn man behauptet, dass die Religion sich eigentlich denken lässt, dass sei eigentlich denkbar ist, hält man sie im voraus in Schach, und die Angelegenheit ist über kurz oder lang entschieden, selbst wenn man das Denken nicht mit einem Sehen, einem Wissen, einem Begreifen verwechselt." (Derrida). Die Wiederkehr der Religion oder auch nur des Religiösen bedeutet sowohl für Derrida als auch für Vattimo eine Erfahrung der Positivität, die Erfahrung eines Ereignisses.

Nicht zuletzt ist Derridas verstärktes Interesse an der Religion (seine Herkunft hat seine Begegnung mit jüdischen Philosophen hingegen schon früh geprägt) auf die Erfahrung von 1989 zurückzuführen, das Jahr, in dem durch den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus neue (oder doch nur die alten) Utopien erschlossen werden mussten. Der Kapitalismus behält auch weiterhin seinen Status als das radikal Böse, nur in der Religion "als solche" lasse sich so etwas wie Hoffnung erkennen.

Vor allem Derrida geht es um die Gemeinsamkeiten von Religion und Vernunft. Er setzt damit nach der Aufklärung an, wenngleich er aus ihr heraus argumentiert. Sein Entwurf nimmt sich zunächst wie eine dekonstruktivistische Annäherung an die Habermassche Diskursethik aus, die im Zuge aber zu einer "abstrakten Religionsphänomenologie" ausgeweitet wird (man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass Derrida sich ja seit der Verleihung des Adorno-Preises als Kind oder besser: als Schuldner der Frankfurter versteht).

Derridas Nachdenken über die Religion vereint noch einmal alle während des letzten Jahrzehnts ausgeführten Reflexionen: über so genannte Fundamentalismen (im Islam, im Christentum und anderswo) im Zeitalter von ,Globalisierung' und weltweiter ,Mundialatinisierung' und das, was er in "Marx' Gespenster" den ,Krieg um die "Aneignung von Jerusalem" ' (als heiliger Stadt dreier monotheistischer Religionen und dreier konkurrierender Messianismen) genannt hat.

Kritisch angemerkt werden muss vielleicht noch, dass die Reflexionen der Selbstvergewisserung der Autoren dienlicher sind als einem breiten Diskurs, der jenseits der allzu oft schwammigen Rückbezüge auf Religion (warum ziehen Derrida/Vattimo immer nur Schriften und nie konkrete Beobachtungen heran) gesellschaftsrelevant wäre. Somit ließe sich auch dieser Sammelband zur Rubrik "Rückzug ins Private" addieren. Den Anschluss an interdisziplinäre Bemühungen jedenfalls hat die Philosophie damit (wieder einmal) verpasst, bleibt sie doch lieber auf dem ihr vertrautem hohen Ross der prima sciencia sitzen.

Titelbild

Jacques Derrida / Gianni Vattimo: Die Religion.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
252 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3518120492

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